2021
Der Waldgut Verlag ist leider Geschichte! Viele meiner Bücher sind dort erschienen. Leider ist mit der Auflösung des Verlags auch die Auslieferung noch vorhandener Titel erloschen. Diese Titel sind noch erhältlich beim Autor oder über die Buchhandlung zur Rose in St. Gallen.
Besuch bei einem Freund / Aus dem Maghreb – wenige Ex./ Fromme Gedichte wenige Ex Drei kleine Reisen/ Von der Liebe / Alltagsgrübeleien / selbstverständlich auch die neu erschienenen Atelierhefte 1-11, weitere Hefte sind in Arbeit, so Atelierheft 14 zum Ukrainekrieg.
Besucht Chorwald Videos mit einer sehr schönen Aufnahme meines Dohlenliedes
2023
13
Ich liebe das Profane
Ich liebe
das kleine Gespräch über den Gartenzaun und
den Hund der Nachbarn hinterm Ohr zu kraulen
ich lieb es
die geschäftigen Hummeln zu schauen
vor dem Bienenhotel an der Mauer
ich liebe
die frühen Primeln das leuchtende Scharbockskraut
die erste Fliege in der Küche auch
ich liebe
was wächst obwohl ich es nicht gepflanzt
und mich überrascht mit Blatt und Blüten
ich liebe
den Alltag
das Einfache
das Profane
12
Schaufel flinke Hände und ein Sieb
Die Gedanken fallen
nicht ein
heute
vielleicht ab
in irgendeine untere Schicht
des Bewusstseins
wo sie lagern
über Mengen anderer Gedanken
früherer Tage
ein Hügel also
wie die Ruinenberge
untergegangener Städte
gern grübe ich darin
als mein eigener Archäologe
erführe von unbekannten Strukturen
nicht als Psychologe
nein als sorgfältig sortierender
Wortgraber
und schriebe dann
vielleicht
mit alten Wörtern
nochmals
neu
von meinem Morgen
11
Was siehst du
Ich sehe wieder
was ich schon kenne aus der Geschichte
Aufblicken zu einer Leitfigur
vielleicht Vater Mutter Ersatz
Mitlaufen
vielleicht Wunsch nach Herdenwärme
Kann nichts dafür
vielleicht zurück zur braven Kindheit
banal dumm und gefährlich
10
Reduktion
Vergehen
vergessen
verstehen
vergeben
vergessen
vermissen
verbleiben
verlassen
vergessen
vergehen
vergehen
verstehen
9
Die Wanduhr
Die alte Wanduhr
tickt brav
schnurrt zehn Schläge
und
fällt aus dem Takt
hinkt leicht
bis das Gewicht des Schlagwerks
wieder ruhig hängt
die Uhr tut ihre Pflicht
tickt von Vergänglichkeit
und
warnt den Geschäftigen
du
Mensch
bleibe im Takt
8
Ein Mantel
Der alte Mantel
mit Spuren
wie Notizfetzen
von irgendwann
ein Kaftan vielleicht
Rauch und Lieder
ein Kaput hartgerollt
mit Delle vom Knie beim Binden
Relikt von der Grenzwacht am Umbrail
oder von Juranächten
sperriger schwerer Militärstoff
nass von der Arbeit im Forst
voll Harz
mit Roststreifen
vielleicht aber
stimmt das alles gar nicht
ich habe es mir ausgedacht
weil es schön wäre
eine Spur des Trägers zu finden
gar des längst verstorbenen Vaters
im Abgewetzten
hinter dem Fadenscheinigen
eine Handvoll Vergangenheit
zu schöpfen
abzuwägen
und zu vergleichen
mit der Jacke
die ich beim Schreiben trage
worin irgendwo nistet
der Wunsch zu wissen
wer ihn trug
und wie es wirklich war damals
7
Petite habitation sommaire
Bereit eine kleine Unterkunft zu bauen:
nimm
Wörter als Bretter
Zeichen als Stützen
Heideginster Takt für Takt fürs Dach
man greift sie aus einem Haufen
wie der Maurer seine Ziegelsteine
für wen gebaut
keine Idee
kaum fertig
bricht alles weg
also los nochmals
wieder sammeln schneiden
Sprachbrocken vor dem Vertrocknen retten
ob diese Baute standhält gegen die Bagger die im Gehirn wühlen
unruhig ist diese Nacht
ohne Schlaf
ohne schützendes Dach
durchhalten
aushalten
als Bleibe
Haus für die die schreibt
Nach einem Text der befreundeten Lyrikerin Christiane Veschambre, Paris
6
Blechkuchen
Liebe Leserinnen und Leser
in Hessen und überall
Heute habe ich köstlich gegessen
ein Stück Kuchen mit Aprikosen belegt
also ein Stück Blechkuchen
hierzulande heisst er weniger prosaisch
Wääje Wää Chueche
Tünne Tülle Tünnle Tuurte
Pitte Zelte
gekauft beim Bäcker-Konditor auf einem Patisserieteller
einem länglich quasi rechteckigen Karton mit abgerundeten Ecken
vergebens habe ich nach zutreffenden Bezeichnungen gesucht
Lamésches Oval trifft nicht zu
eine namenlose Form also
es bleibt nur
beschichteter oder unbeschichteter Patisserieteller
basta
in solch unbedarften Wort-Wühlereien
verliere ich mich in letzter Zeit oft
wohl um mich nicht zu verlieren
in dieser traurigen Gegenwart
sinnlosen Tötens und Zerstörens
5
Der gute Morgen
Hie und da
machts der Zufall leicht
du findest deine Brille wo sie nicht hingehört
so wird es ein guter Morgen
da passt auch
nur mässiges Ziehen im Nacken
Kaffeeduft vielleicht
unpassend frühes Telefonklingeln
aber sehr freundliche Stimme
ein Vogelpfiff
Taubengurren
ein heller Himmel
und der Entschluss als Rentner
heute nur zu lesen
oder
in die Gegend zu schauen
und nichts zu tun
4
Schreib
Schreib
schreib vom Atem
Nebelhauch in der Kälte
Luftspur
da und verschwunden
schreib vom Wandel
vom Wachsen und Bewegen
schreib vom Leben
schreib nicht vom Krieg
heute nicht
3
Gegenüber
Gegenüber
blinken Lichter
Sturmwarnung
bleischwarz der See
darüber hängen Schneewolken
wo ich wandere
ist weder Wind noch Schnee
wann holen sie mich ein
hier
2
Nach Neujahr
Was wird
was nicht schon da war
letzthin oder vor einem Jahr
es dampft aus der Küche
zwei Karotten eine Kartoffel
auf den Teller
und eine Scheibe Käse
füll das Glas
setz dich
iss trink
und grüble nicht
1
Neben den Gleisen
Gräser
wippen
federnd
neigen sich weich
als streichle sie
zärtlich
der Wind
52 (2022)
Neujahrssprüchlein
Sag ciao sag servus sag adieu
zum Jahr das nun zu Ende geht
Abschiede schmerzen und tun weh
das kennen wir
der Blick voraus hingegen
macht frei und ist ein Segen
51
Rezept für heitere Tage
Wenn heute an vielen Orten
nicht Zerstörung und Not wär
wäre ich rundum glücklich
weil Krieg und Gewalt real
bleibt mir nur die Wahl
ich tu was dort hilft
ich such hier was mich froh macht
50
Noch zehnmal schlafen
Wie doch so kleine Sätze
mir Altem die Kinderzeit zurückholen
der Blick am Morgen vors Fenster
ob statt meines Wunschzettels
ein Gruss von irgendwo dort stecke
im Ohr die melancholischen Lieder
mit Wörtern die ich nicht verstand
vom harten Weh der Menschheit
von verschlossnen Türen weitem Tor
vom frühen Morgen mit Kerzenlicht
und vielen Menschen in der Kirche
wie sonst nie zu dieser Zeit gesungen
dreimal Ave Maria und dann Ovomaltine
Gefühle in eigenartiger Mischung
berührend fast alle
damals
49
Sehr moralisch
Das Jahr rutscht in die Hektikzeit
die war zwar nie so vorgesehen
aus Einkehr ist Einkauf geworden
für die die man die Lieben nennt
lass diesen Quatsch mach sie zur Zeit der Heiterkeit
des Unbeschwert-Zusammenrückens
jawohl trink einen Glühwein iss Konfekt
schau vielen in die Augen und sage
allen ein liebes Wort
48
November
Ich liebe den November
seine dunklen Tage
ich setze mich hin und gehe behutsam
durch vergangene Monate
sammle Erinnerungssplitter
die kleine Freude
als ich Misteln an meinem Bäumchen entdeckte
und die Trauer als sie abstarben
die Heiterkeit der Spatzenschar im Nachbars Garten
er ist gestorben seine Frau wird wegziehen
Menschen und Vögel werde ich vermissen
dann Zeilen von Namen
lieber Verstorbener
unvermutet solcher die schon Jahre tot
Elfriede liebenswürdige Pfarrerstochter
Hans guter Turner mässiger Schüler
von einem besoffenen Autofahrer getötet
Freundinnen Freunde Brüder Schwestern
Eltern
langsam verblassen ihre Gesichter
und ich suche
die freundlichen Augen
der geliebten Frau
immer wieder
und
die strahlenden Augen der Jungen
und
möchte aushalten
die fragenden besorgten Blicke anderer
47
IC 16h59 ab Winterthur
Föhnschlieren
Seepferd Alligator
zerfliessen zu ausgemergeltem Drachen
der Himmel macht auf Dramatik
giftgelbe Streifen
schwarze Wolkenzöpfe
drohend
aufgeschichtet zu riesigen Haufen
soll er doch
heute kümmerts mich nicht
ich mag das Farbenspiel
46
ICE Mimikri
Notebook Thinkbook Tablets Laptops
Stöpsel im Ohr
hochkonzentriert
Railoffice
klar
alle beschäftigt
sag nichts
schau verstohlen
90%
Gameoffice
45
Vor der Abreise
Was noch zu tun ist vor der Abreise
nichts Aufregendes
Koffer packen Freunde verabschieden
vielleicht im Kopf schon Bilder sortieren
zu jenen kleinen Geschichten fügen
die den Fundus fürs Erzählen bilden
wenn dann die Frage kommt wie wars
die unvermeidliche
mit einem Kuss
die Melancholie des Abschieds
mildern
44
Eine Libelle auf meiner Schulter
Eine Libelle landet auf meiner Schulter
bleibt fliegt weg
kehrt wieder
sie mag meine Schulter
mein helles Hemd
als Ruheplatz als Ausguck
mag mich als Partner
ist natürlich alles Humbug
ihr Habitat ist der Botanische Garten
ich bin ein Besucher dort
basta
eine kleine Freude aber
eine unbedarfte Träumerei
bleibt mir
es sei dies
eine echte Begegnung gewesen
zwischen ihr und mir
Lopf d Füess
Jetz im Herbscht
wenn d Strooss voll Blätter isch
en goldige Teppech
da freut eim
laufsch wie of Waldbode zmetts i de Stadt
und wenns denn sogär no raschlet
fühlscht di wie n e Chind
gescht häts grägnet
und jetz isch es sauhääl
ufem Berliner Pflaschter
muesch d Füess lopfe
schlaarpe liit nüme dren
s wöör di böös omhaue
bisch äbe nüme de Jüngscht
daa met em Omhaue
passt öberhaupt i die Tääg
a waa chamer sich no hebe
aals isch froogwördig worde
und Profeete vo allne Farbe
schnorred deer d Oore voll
lopf d Füess und
lueg wo d laufsch
und
wo d ane laufsch
43
Mein intellektuelles Dilemma
Umschau haltend in der Welt
auflistend Krieg Hunger Zerstörung Versäumnisse
heute
dazu blicken in Zeiten vor uns
frage ich
wie sind wir Menschen zu verstehen
wie ist die Unbegreiflichkeit des Menschen ein Leben lang auszuhalten
lese dann
`Glauben heißt: die Unbegreiflichkeit Gottes ein Leben lang aushalten.` (Karl Rahner)
nun frage ich
passt `glauben` auch für das Aushalten der Menschen
oder
sind beide Sätze im Grunde banal
42
Wider den Krieg
Rebellieren schreien
verweigern
raus aus der Privatwelt
alles riskieren
doch
alles schon x-mal gesagt
alles schon x-mal geschrien
x-mal erfolglos
rauskotzen
trotzdem
aber dann
das Leben loben
und lieben
jede
Minute
41
Zufälliges Glück
Du hörst ein freundliches Wort
du lächelst
das Wort war nicht zu dir gesagt
du lächelst trotzdem
und freust dich
ein guter Tag
40
Wart’s ab
Es wird wohl
ein strahlender Berliner Herbst
die Blätter wechseln schon zu Gold
wäre gut für uns Geplagte
schaudernd schon mit Gänsehaut
allein beim Worte Winter
Himmel und Händler mögen bescheren
Oel und Gas und Herzenswärme
damit wir überleben
mit Schärpe Mütze Federbett
ein Grog
ein Kuss und noch ein Kuss
Handschuh für klamme Finger
Ja nu
wart’s ab
an Ostern wollen wir reden
39
Mag sein
Es heisst
mag sein
dass dies und das sich wendet
mag sein es bleibt
mag sein
Ohren Augen
auf
zu
das sagt sich so
noch werden Mütter
zu Grossmüttern
und sehen
Kinder hüpfen
zwischen
Himmel und Hölle
38
Konzert mit Dachfenster
Pranken
auf den Tasten
Bach
kraftvoll
zerhaut die Partitur
streichelt die Trümmer
und fügt sie neu zu grandiosem Gebäude
lässt Sturm auffahren
wechselt zu kräuselndem Wellenspiel
grüsst Schubert Schumann Dollar Brand
mit dem Ave Maria aus Nuoro
lässt schaudern
berührt erheitert
Im Rechteck des Dachfensters
drei weisse Wölklein
ziehen und verschwinden
der Gipfel der Fichte unten links
stur unbewegt
dann Astwippen
zwei Tauben fliegen weg
Ruhe im Bild
bis von rechts ein Wolkenball
weiss dann grau
den Schluss macht
Applaus
37
Uns zum Trost
Der Himmel ist
voll
Wolkenblütenbäume
jetzt im September
wo sich liebe Menschen
reihenweise
verabschieden
ins unbekannte Jenseits
sie sind es wohl
die diese Bäume wachsen lassen
uns zum Trost
36
Bühne
Leere Bühne
der Held die Heldin abgetreten
die Luft vibriert nicht mehr
von grossen Gesten keine Spur
kurzes Spiel
langes Spiel
Erinnerungen sind Kulissen
bald weggeschoben und ersetzt
die Bühne bleibt
sie ist nur Bühne
kennt seit je
Auftritt und Abgang
35
Versprochen
Heute
mittags
unerwartet
blicken mich
fünfhundert
Gedichtbücher
vorwurfsvoll an
ich schäme mich
greife zu Kummers ‘bigoscht’
und verspreche
wieder häufiger Gedichte zu lesen
34
Ganz allein ohne niemand
Pino spaziert am Gärtchen vorbei, hat mich bemerkt hinterm Gebüsch und schildert mich seinem Vater als ganz allein ohne niemand.
Echt bedauernd
das rührte mich
und erheiterte mich
durch die fehlende Logik
und brachte mich ins Grübeln
ist fehlende Korrektheit
manchmal treffender
Fehlerhaftes
überzeugender
ist Geschliffenheit am Schluss
nur Bluff
ein Lob dem Unvollkommenen
Applaus dem Fragment
33
Morgenlieder
In der Nacht hat es geregnet
ein klarer Morgen leuchtet
aufzieht nochmals
ein grosser Sommertag
wie so viele dieses Jahr
mir fallen Morgenlieder ein
kitschig sentimentale
prallvoll von Lob und Dank
nun sehe ich am Himmel
zartes Gelb mildes Rosa
und da und dort schon
Kornblumenblau
und ich muss gestehen
meine Gefühle sind nun
genau so wie in den Liedern
dankbar und gerührt
32
Harscher Wind
Wind
zwirbelt lange Ruten der Büsche
hinter meinem Gartentisch
rotgelbe Trichterblüten fallen
schüttelt jenseits des Feldes
Kastanie Esche Akazie Föhre Ahorn
In gewaltigen grünen Wellen
schiebt graue Schleier
vor die Berge
zu Blitz und Donner
blättert unversehens
schneller Leser
meinen Tucholsky von vorn nach hinten
31
Alles wie gewohnt
Gewohnt
der Jahreszeiten
mit wechselnden Farben
meine ich zu wissen
was jetzt ansteht
schweres Gelb
abgeernteter Getreidefelder
Allerweltsgrün
gemähter Wiesen
schwarze Plastikbahnen
in den Gemüsekulturen
schmutziges Braungrau
ausgetrockneter Feldränder
alles wie gewohnt
wenn nur die Häufung
tarnfarbiger Uniformen
nicht wäre
30
Ja genau
«Machen
Sie sich
keine Sorgen
küssen Sie
Ihre Frau»
Schluss eines kurzen Gesprächs über Kriege beim Abfallentsorgen
29
Bescheidenes Glück
Eine kleine Hand
hält meinen Zeigefinger fest im Griff
Stütze
für erste wacklige Schritte
der Kleine strahlt
und ich mit ihm
28
Halbzeit
Du atmest ein
du atmest aus
flüchtig sind die Tage
unbeständig
nicht zu halten
zerbrechlich ist die Zeit
in der Randsteinritze die Wegwarte
betörend ihr Blau flüchtig ihr Reiz
ist der halbe Tag herum verblasst er
du atmest ein
du atmest aus
Halbzeit
27
So ist es eben
Die Kletterrosen nehmen Abschied
sie sind freundlich und
lassen zwischen den fahlen vertrockneten
da und dort neue aufblühen
die Hortensien aber putzen sich heraus
zur Begrüssung des Sommermonats Juli
als Rosabüsche unter dunkelblauer Clematis
es gibt nichts zu bedauern
26
Hitze ist angesagt
Der Tag beginnt hell und freundlich
eine kleine Morgenbrise
lädt zu frühem Spaziergang
leicht lasse ich so zurück
was lästig sein könnte
das genügt schon
taufeucht ist die Wiese
auf jedem Gras ein Tropfen
purer Diamant
unerwartete
zierliche
Morgengabe
25
Was steht nun an
Helfen sie weiter
Meise und Amsel
das Taubenschwänzchen
Rosen Rosen Rosen
Türkenbund
Nachtkerze
Anna gestern geboren
Max mit den ersten Schritten
die Vierjährige die mir die Welt erklärt
der Knirps der schon Rad fährt
24
Einfaches Leben
Wäsche gewaschen
im Wind getrocknet
gebügelt
versorgt
zufrieden
auch der Sonne zugenickt
Pfingstlicher Nachtrag aus dem mittelalterlichen Text
Veni, Sancte Spiritus – Komm, Heiliger Geist, eine Art Wunschliste für unsere Zeit…
Ausschnitte aus der Sequenz, zugeschrieben Stephen Langton , Canterbury (um 1150 bis 1228)
Heiliger Geist, komm
sende vom Himmel her dein Licht.
Komm, Vater der Armen,
Komm, Geber der Gaben,
Komm, Licht der Herzen.
Bester Tröster.
In der Mühe bist du Ruhe,
In Erregung Mäßigung,
Im Weinen Trost.
Wasche, was schmutzig,
Bewässere, was trocken,
Heile, was verwundet.
Beuge, was starr ist,
Wärme, was kalt ist,
Lenke, was irregeht.
Volltext und Übersetzungen finden sich bei Wikipedia
23
Was wichtig ist
Zufällig an Paris denkend
dann an lange Monate dort
so lege ich eine CD ein mit Chansons
und gleich als erster Titel
Gilbert Bécaud L’important c’est la rose
vielleicht hat er ja recht
die Rosen und alles was wächst
sind mir in diesen Tagen willkommene Gabe
köstlich und tröstlich
22
Summe des Vergessenen
Bilder tauchen auf und Geschichten
Der Patriarch segnet
der Diktator bekreuzigt sich
keiner schämt sich
Jerusalem ist zerstört
die Amsel singt ihr schönstes Lied
ein Pilger spricht
Herr Jesus Christus erbarme dich meiner
er betet unaufhörlich
Verödet sind die Tore
niemand pilgert zum Fest
ihre Bedränger sind an der Macht
der Patriarch segnet
der Diktator bekreuzigt sich
keiner schämt sich
die Amsel singt
ein brauner Leineneinband
erzählt von der Lektüre eines Schülers
von der ersten Entdeckung der russischen Weite
in Tolstois Volkserzählungen
Wieviel Erde braucht der Mensch
von Kriegen im Kaukasus
von Heiligen und weisen Bauern
da ist wieder die Lust darin zu lesen
mit Staunen über versöhnende Erzählungen
die Amsel singt
der Patriarch segnet
der Diktator bekreuzigt sich
keiner schämt sich
bizarr
wie die Welt russischer Märchen
Bab Jagas Hütte auf Hühnerfüssen
dreht sich und verwirrt wer sich nähert
ein Soldat verprügelt Teufel
schleicht sich in den Himmel
Zarentöchter heiraten Dümmlinge
Recken Drachenbräute
gekämpft verraten geköpft geviertelt
Berge von Leichen
samt wundersamer Auferstehung
der Patriarch segnet
der Diktator bekreuzigt sich
keiner wundert sich
wo bleibt Tolstoi der Lehrer
der Vermittler gar Prediger
wer pilgert doch noch nach Jasnaja Poljana
zum Unterpfand
der gefühlvollen Seele
jenes Russland das wir glaubten
zu erahnen bei Tolstoi und Puschkin
reich fremd anziehend und berauschend
noch singt die Amsel
«… als ob sie damit gleichzeitig alle Plumpheit, Erdgebundenheit und jeden verspotteten, der nicht das unbeschreibliche Glück hatte, ein engelgleich gefiedertes, engelgleich singendes Wesen zu sein, das die Freiheit genoss, sich jederzeit in die Luft erheben oder sich von höchsten Türmen, Bäumen und Klippen in die Tiefe zu stürzen, im Fallen die Schwingen auszubreiten, plötzlich zu schweben und sich vom Aufwind zurücktragen zu lassen in den Himmel.»
Ch. Ransmayr, Atlas, 25
aber der Patriarch segnet
der Diktator
bekreuzigt sich
21
Putzgers Historischer Schulatlas von 1923
Ein Atlas als Summa aller Krieg seit der Antike
Landgewinne Landverluste
volatile Grenzen
Kriegsschauplätze
lassen sich besichtigen oder erwandern
Schlachten nachspielen
Gang durch Horror und Zerstörung
über Jahrhunderte
ich entsinne mich nicht
dass mir damals als Schüler grauste
dass ich irgendein Mitgefühl empfunden hätte für Gefallene für Ermordete
abgebrüht
eher jugendliche Unbeschwertheit
heute setzt mir das zu bis zum Unwohlsein
und
nichts ist vorbei
im Frühjahr 2022 ist plötzlich all das wieder da und nah
und
die Enttäuschung
nichts gelernt
wir ich alle
20
Die grosse Parade
Marschiert Männer
ihr seid noch jung
marschiert und lasst euch führen
Jugend und Kraft
marschieren im Schritt
wie wunderbar ist euer Mut
strahlt und marschiert
was euch befohlen
todsicher ist euer Glück
19
Draussen
Ich sitze am Pult
die Kletterrose schiebt sich vor das Fenster
vom Stuhl aus
kann ich mehr als vierzig Blütenknöpfe zählen
herrliche Tage in Sicht
Amen
18
Reparatur
Jesus reitet auf dem Esel
als Figürchen auf einem rot gebänderten Stab
zu tragen in der Palmprozession
leider mehrmals gestürzt
Ohr weggebrochen Beine geknickt
Brüche da und dort
jetzt habe ich mich ans Flicken gemacht
beim speziellen Esel geht das
aber wie ist es mit den Rissen im Erlöser
lässt sich auch der Sohn Gottes reparieren
damit er seine Rolle als Pantokrator
wieder einmal wahrnehmen könnte
und nicht bloss vom Stab auf dem Esel
auf uns herabblickt
auf uns
die seine Sorge um die Welt
heutzutage so vermissen
17
Blau
Meine Augen sind blau
das heisst die Iris
ist oder scheint blau
für das Sehen ist das belanglos
sie sind Erbe irgendwelcher Vorfahren
ich weiss von Zeiten
wo blau als Echtheitsausweis galt
in meinen Augen
ist noch nie jemand ertrunken
ich jedoch hin und wieder
beinahe
in den Augen schöner Frauen
und endgültig in denen
meiner Liebsten
16
Ostern 2022
Geboren
vor dem grossen Krieg
plötzlich liegen alle Bilder von damals
wieder auf den Tisch
hatten wir ihn denn nicht genug gesäubert
wieder da Furcht und Schmerz Angst und Wut
meine Südbuche grünt direkt am Haus
ich habe gewartet
auf den zarten Duft ihrer jungen Blätter
ich öffne das Fenster
heute ist der Duft wieder da
strömt herein
und rettet
Gedicht und Tag
Ostern
15
Unerwünschter Vorschlag für meinen Geburtstag
Heut sage ich mir persönlich guten Tag
du hast Geburtstag lass dich feiern
wenn niemand anruft klopf dir selber auf die Schulter
und hole den Prosecco aus dem Keller
schau dir im Spiegel in die Augen
dann sage lächelnd Prosit du Alter
und zieh das durch bis du am Abend
dir gute Nacht sagst – schlafe wohl
mein Gott ist diese Variante mies
Freundinnen Freunde
kommt lasst uns miteinander feiern
ob vor der Türe ein andrer wartet
wir wissen’s nicht
14
Heute schreibe ich
Heute schreibe ich
über den milden Frühlingsregen
über den Duft der aufsteigt aus der ausgetrockneten Erde
über Buschwindröschen Lerchensporn Schlüsselblumen
über heiteres Dösen in warmer Sonne
ich sehe Osterglocken längs der Strasse
freue mich wie die Korkenzieherweide austreibt
und über die flinken Meisen im Geäst
die Zeitung lege ich schnell beiseite
Nachrichten mag ich nicht hören
es ist Schnee angesagt
wir werden’s überstehen
das sagt sich leicht
13
Davonkommen
Wer noch nie davongekommen ist
gehört zu den Ungefährdeten
die bis dahin Glück hatten
nie haben davonkommen zu müssen
und
weiss nicht wie es in denen aussieht
die davonzukommen hoffen
kennt nicht deren Ängste
Hektik Verzweiflung
und
nicht die bedrängende Scham
gegenüber jenen
die nicht davongekommen sind
aber
wir sind Aussenstehende
und wünschen uns
dass unser Mitgefühl echt sei
und unsere Hilfe helfe
12
Vierzehn Tage Krieg
Wieder Schneeglöcklein
viele
im schmalen Gärtchen vor dem Haus
in der Nacht der erste Regen seit Wochen
lautlos knallen Knospen
Frühling
Tulpen treiben aus
noch fehlt die Blüte
ich warte
gib mir deine Hand
11
Aber er hat die Bombe
und ich kein rechtes Gedicht
Liebt Musik sponsert Festivals
fischt schwimmt zeigt seine Männerbrust
kleiner Mann gerne gross
ein Held
ein Schwindelkünstler
erfindet die Geschichte neu
ein echter Grenzenschieber
wer Klartext spricht ab in den Gulag
verdammter Lügenfürst
verseucht das Volk mit Fakes
ein miserabler Verleumder
und die Moral
der Künstlerinnenverehrer
bleibt doch Kriegstreiber Mörder
ein krimineller Gernegross
blitzgefährlich
er hat die Bombe
aber ich
kein Gedicht
säged mers e so
wenn t ali Flüech und Schimpfuustrügg binenand häsch
chönsch jo e Gedicht mache
aber wenn t weisch dass tuusegi vo Mensche
wörkli liidet Angscht hend und villecht ales velore hend
und kei Zukunft gsiend för sich und au för d Chind
wel do eine n isch wo met Atombombe spilt
und met üsere n Angscht
denn muesch di scho frooge öb die sechs Stroofe
als Gedicht döregienged
und
wa dLüt demet chöntet aafange
Sagen wir es mal so
Wenn du alle Flüche alle Schimpfwörter zusammen hast
dann könntest du ja ein Gedicht schreiben
aber wenn du weisst, dass Tausende Menschen
wirklich Angst haben und vielleicht alles verloren haben
und keine Zukunft sehen für sich und die Kinder
weil da einer ist der mit Atombomben spielt
und mit unserer Angst
dann musst du dich schon fragen ob diese sechs Strophen
als Gedicht durchgehen
und
was die Menschen damit anfangen könnten
10
Trauer und Wehmut
Trauer und Wehmut
wieder eine Illusion zerstört
Vernunft
verliert
sich augenscheinlich schnell
reihum
Machtegoisten
gnadenlose Totengräber
ich möchte nicht zählen
die toten jungen Männer
die zerstörten Seelen
der Davongekommenen
wüsste lieber nichts
von der Angst von Frauen Kindern
von den Tränen der Alten
gäbe es
einen Engel einen Gott
der dazwischen träte
risse den Verblendeten die Masken weg
gäbe Halt
und
schüfe Hoffnung und Trost
bitte
09
Putin – ein Sonett
Ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
Ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
Ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
Ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
ich ich ich ich ich ich
08
Stolperwörter wie bodenständig etc. – ein Qodlibet
Bodenständig echt zuverlässig authentische
verwurzelt und heimatverbunden treu gläubig
bhäbig ufrecht graad
dazu schöne Bilder mit Raclette und Edelweiss
Gotthardbahn Matterhorn und Jungfrau
auch ohne Barry
aber etwa mit Geburtstag Stammtischrunde
Familienfoto samt Berg und Strand
zom brüele schöö mega schöö
schon sprudeln neue Bilder und Wörter
Erinnerungen zu Rinnsalen aus Lust Heiterkeit
manchmal von Ärger
en Seich en Schiissdregg en Mescht
voll denäbed und gschemig
und natürlich Fragen
wie ist das mit den Bodenständigen
Echten Zuverlässigen Treuen Gläubigen
fröögle frooge zwiifle gröble
sie wurzeln wachsen
werden geerntet
sie stehen kleben versteinern
wie n en Block en Chlotz uu vechlemmt
oder sind sie
die einfach bleiben beruhigen stützen
vielleicht wissen
von jenem Körnchen Wahrheit
das wir alle gerne besässen
isch nöd ooni chönt jo sii
tue n ene nöd uurecht s isch scho öppis draa
07
Verlegen bei «wie geht’s?»
Es geht
natürlich geht es alles geht
stets geht etwas
nix Stillstand pantarei Binsenwahrheit
es geht vorwärts hinauf oder hinab
was also soll die Frage
es geht gut
ach du Spiessbürger gut
wieso nicht besser
höher schneller stärker
Bewegung ist alles
Sosolala-Realist
humpelnd aber immerhin es geht
geht mühsam schlecht
dann doch
jeder Schritt fast Glück
liebe Freunde
beladet gehen und Gehen
mit Schmerz Langeweile
aber auch
mit Lächeln und Lachen
es geht nie nicht
06
Zwei Morgen Variationen
1
Wenn i am Morge uufstand
tschägg i zerscht mini Chnoche
zwickts Gnick scherbelet de Nacke
bi de Chnüü lueg i gär nüme
als Nöchschts frog i mi meischtens
und de Welt wie goots däre
lueg id Zitig oder id Chischte
und scho weiss is
immer no seklet Uugimpfti
mit Chueglogge omenand
schwadroniered vom Fryysii
phaupted mer seged onderjocht
jä Gopferteckel
wöred die denn lieber läbe
z China z Burma z Russland
oder sös näbe wo d
oms Himmelswille nie
nie seisch wa d tenksch
die miise Sieche
di machtgeile Schtaatschefs
do und dei die mein i
söttmer of de Moo schüüsse
Geschiiders fallt mer au nöd ii
denn tringg i en Kafi
und tue
wie wemmers gliich wäär
2
Wenn ich ein Vöglein wär
flög in die Welt hinaus
wollt nochmals Schönes sehn
und mich dran freun
Burmas goldene Pagoden
die Rosa Delphine im Amazonas
die Schluchten und Tempel China
den Sternenhimmel in der Sahara
Sarajevo Gizeh Samarkand
Petersburg Rila Brezewo Meknes
Kairouan Dublin Zefat Jukkasjärvi
Terceira Song Kul Xian
flög ich
dort wirklich hin wo jetzt gilt
schweig sag immer ja
duck dich kriech denke nicht
Macht ist allzeit
zu allem bereit
wenn ich ein Vöglein wär
Vögel weinen nicht
ich flöge dorthin nur mehr
wo alles frei
05
Langweiler
Eigentlich mag ich Zeitgenossen
die etwas flattrig durch die Tage gehen
die Langweiler die meine Briefe nicht beantworten
beantworten vielleicht überhaupt keine Briefe
vielleicht langweilen sie meine Briefe
vielleicht sind sie einfach vergesslich
unorganisiert chaotisch und überfordert
ich mag sie trotzdem und schreibe
solange ich etwas zu erzählen habe
aber irgendwann ist Schluss
ihr Langweiler
04
Wieder
Wieder
Jährchen auf Jahr
oder andersrum
je nach Gewicht
was wiegt ein Jahr
was macht es schwer
was macht es leicht
des letzten Jahres Gesicht
wie sah es dich an
wie war sein Duft
zärtliche Brise
Gestank
Blütenzauber
wo sind die Spuren
der vergangenen Tage
wo sind deine
wo sind meine
wie lange war das Jahr
für uns
und
welcher Farbe war es
mein liebes Herz
hell ist es noch
du bist noch da
ich bin noch da
komm
lass uns vorwärts blicken
und gehn
03
WhatsApp um 15 Uhr
Jetzt
hier ist es Winter
wir sitzen im Auto
fahren von der Stadt ins Dorf
kaufen beim Metzger Kalbragout
wir wollen morgen Geburtstag feiern
es klingelt
die Freunde in Brasilien
kochen Mango-Konfitüre
sie schwitzen
unsere Sonne steht tief
wirft lange Schatten
in den Geschäften läuft nichts
Januarloch oder Angst vor Corona
Leere statt Erlösung
keine Epiphanie
keine Myrrhe kein Gold kein Weihrauch
der Antwort über den Ozean
fehlt
der Duft von Dreikönig
02
Hinter meinem Rücken
Der Bildschirm
spiegelt
die Buche im Nachbargarten
den Riesenbaum
vor einem Winterhimmel
weissblau
nacktes Skelett
gegliedert
offen
bis zum letzten Ästchen
kräftiger
Scherenschnitt
und
filigrane
Ritzzeichnung
mitten drin
blass gespiegelt
auch
mein Gesicht
01
2022
Nicht Grosses
nicht Kleines
nicht zu bescheiden
nicht zu ernst
ein Augenzwinkern
und bitte
ein Lächeln
Das war 2021
52
Gedankenspiel
Das Blaue
vom Himmel holen
das Firmament plündern
Sterne in die Stube
es gibt genug davon
auch für euch
liebe Freundinnen und Freunde
wenigstens so tun
in kindlicher Unverfrorenheit
als könnten wir
das Unvermeidliche überlisten
ein Gedankenspiel
das eine kurzlebige
aber luftige Heiterkeit
in den Alltag wirft
51
Festtag
Manchmal fallen mir
Festtagstexte schwer
heute sind sie leicht
fast luftig lustig
eine Spielerei
ein Hupf zu meiner Liebsten
und herzlich gedrückt
in meinen Armen
50
Offene Partie
Ja nu zu reden gäbs die Menge
aber das Wort
das genau trifft
liebe Damen und Herren
das muss einem zufallen
einmal ist es
sei mutig
ein andermal
gehs langsam an
oder
rück doch näher
zuweilen
komm
lass dir Gesundheit wünschen
Prosit zum Wohl
49
Herbstabschluss 2021
Schiefergrau Leinen
Mais Gold Dunkles Orange Gelb
Peru Sattelbraun Schokolade Siena Ocker
Braun Kastanien Sandbraun Gelbbraun Grobes Braun
Blassgrün Seegrün Olivgrün Weizen
Rot Ziegelfarbe Koralle Dunkelrot
Teppiche
wo du gehst
48
In diesen Tage
Was in diesen Tagen
alles geredet gepredigt
schwadroniert wird
erschöpft
beschleicht mich
ein Albtraum
ist die Erde
nicht doch
nur eine Scheibe
ich muss unbedingt
das Lob der Torheit
des Erasmus
nochmals lesen
«Mir, ja mir ganz allein und meiner Kraft
haben es Götter und Menschen zu danken,
wenn sie heiter und frohgemut sind.» sagt die Torheit (geschrieben 1509)
47
Aus dem Leben gegriffen – der Referent
Alles geziert
der Blick auf die Sackuhr
die Kunstpause vor dem ersten Satz
Wörter wie Nippes
und Blicke auf die eignen Federn
selbstverliebt
Gockel mit Stil
46
Blink blink
Lichterketten
in den dunkeln Abenden
überall
schnipseln
Lichtsalven
wildes chaotisches
Aufbegehren
blinkblinzelndes
Heimweh
nach
Taghelle
Spielwiese
Sternlein trödeln
Farben hüpfen
um
gefühlsselige
Alltagsflüchter
45
Hintergrund
Mit der Rückkehr
kommt der Frost
besser
nach der Rückkehr
kam der Frost
verflixte Verknüpfung
setz dich
denk nicht du kenntest
die geheime Welt
der Ursachen
gestern war Regen
heute ist Sonne
klar
aber weshalb
habe ich geweint
über drei Töne
in Beethovens Sonate
Sonate für Klavier 111
44
November
1
Was lebt
ist vergänglich
verändert sich stirbt ab löscht aus verschwindet.
bleibt
eine Erinnerung ein Satz,
eine materielle Spur vielleicht
oder nichts.
ich bin 82 Jahre alt
meine Tage
voll heiteren Momenten
mit kleinen Ärgern mit Versäumnissen
banal und leicht
vergänglich
wie der Rausch
dieses goldenen Berliner Herbstes
2
Aber dann
Adam wo bist du *
Antisemitismus und Ausgrenzung
Installation mit Videos Betroffener
getroffen
stehst du
zwei Stunden
hörst und schaust
jeder
Mensch
ist
ein
Mensch
du hast kalte Füsse
und merkst
genau so muss es sein
*Ilana Lewitan (www.ilana-lewitan.de)
(Berlin 2021/5)
43
Augen lauter Augen nur Augen
Wieviel teilen
Hände mit nackte Füsse
Gesichter ja doch
aber Augen nur Augen
Tuareg
kennen sich über die Augen
die U Bahn als Schulzimmer
Covid als Lehrerin
wird uns das auch beibringen
und
die Kinder ohne Maske
Anna mit strahlenden Augen
(Berlin 2021/4)
42
Ostsee
Wellen
haben Sandkörner
geschoben
zu einem feinen Kamm
Rückgrat
verborgenen Wesens
sanfte
Grenze
Saum
des Unbekannten
(Berlin 2021/3)
41
Zwei Friedhöfe
1
Als stünde die Zeit
als wäre hier der Ort
den wir immer gesucht
ohne Tagesgeschäfte
ohne Hektik
neben einander
die Grimm Brüder
sie haben uns hinterlassen
Märchen und
die Gesamtheit deutscher Wörter
Feministin Sänger Pädagoge Frauenrechtlerin Arzt
Kindergräber mit Windrädchen
lange Leben kurze Leben
2
Hinter Resten der DDR Grenzmauer
der Invaliden Friedhof
Grabmale des Militäradels der letzten 300 Jahre
Monumente
Adler Löwe Engel Kürass Degen Helm in Stein und Eisenguss
und
Wörter
Heldentod fürs Vaterland für Deutschlands Grösse Deutschlands Heer und Heiligtum Ehre Bewunderung Held redlichster Diener Menschenfreund treu bis in den Tod vor Warschau
Generäle aller Grade
hochgeehrt
Schlieffen Moltke fast alle
Erwin von Witzleben im Widerstand gegen Nationalsozialismus
Zum Gedenken an die Widerstandskämpfer des 20. Juli 1944
Geschichte von Krieg Mord Tod Terror im sanften Herbstlicht
die Bäume mit erstem Gold in den Kronen
gestern besucht
(Berlin 2021/2 // Matthäi/Invaliden)
40
Wer weiss
Kleine Aphroditen
präsentieren
selbstbewusst
ihren Bauchnabel
ihr Beweggrund
entgeht mir
einleuchtend schiene mir
sich so abzugrenzen
von den Aliens unter uns
wobei allerdings
zu vermuten ist
diese könnten trickig auch
einen Bauchnabel bluffen
wer weiss
(Berlin 2021/1)
39
Unerwartet
Unheimlich
schnell
heute rot morgen tot
wir wussten es schon immer
abgelagert irgendwo
wie schön wäre
ein Pochen an der Tür
wir öffnen und
da steht er
Freund
so nannten ihn die Alten
nennt ihn ihr Lied
es fallen Schmerz und Not
singend
aus der Welt
Sollst sanft in meinen Armen schlafen
für Doris S. +20.9.21
38
Klassenzusammenkunft
Alte
Kolleginnen und Kollegen
getroffen
wirklich alte
und alte
weniger wirklich alte
als würde irgendetwas
die einen einspinnen
andere nur ankratzen
ungewiss
ob alt
nur Last
und
heitere Tage
Zufall
37
Sehr herbstlich
Wie richtiger Sommer
gebärdet sich der Tag
als wäre gut machen
was seit Wochen versäumt
unsereiner muss sich aufwärmen
hinter dem Zaun hockt
vielleicht schon Herbstnebel
mit kalten Händen
schnell noch besuchen
die uns lieb
rundum ist Abschied
der Zeiger rückt und rückt
36
Kleine Lektion in Bürokratie
Belege zusammensuchen
Nachweise ausstellen
Verbindungen erfinden
gerne hörte ich
lass das
aber ich höre es nicht
also weiterwühlen
und fantasieren und erfinden
sie wollen das so
genauso musst du es machen
wie locker wäre ich nach
lass es bleiben
35
Anspruchsvoller Abend
Wo sind die Mauersegler
ich vermisse sie
gestern
existierten sie nicht
woran ich nicht denke
existiert nicht
ich habe vor
noch Vieles zu erschaffen
ich muss viel denken
für meine Welt
immer weiter
täglich Neues
34
Zeichen
Du erwachst
keinerlei Geräusche
Morgenruhe
ein heller Tag
kleine Nebelschlieren
die Hortensien
unglaublich rosa
auf dem Teppich
ein Gammafalter
tot
noch ist es möglich
zu bedauern
auf dem Tisch
die Zeitung von gestern
33
‚Lehre das Kind, über die Bäume nachzudenken‘
Giorgos. Seferis
Am Morgen
geht er
in sich
sucht
findet nichts von Gewicht
fragt sich
wie sähe er aus
der bessere Lebensentwurf
erwägt dies und das
seufzt schliesslich
vielleicht sollte ich
über Bäume nachdenken
32
Vorläufig
Fehlerfrei umfassend
so haben wir es gelernt und gelehrt
aber eben
da ist die Lektorin scharfen Auges
sieht jede Ungenauigkeit
beinahe eine göttliche Sache
drum
bescheidener Rückzug zu weniger Fehlern
unvollkommen sind wir
unvollständig was wir tun
zerbrechlich ungenau
vorläufig
vergänglich
schon immer banalste Tatsache eines Lebens
und schliesslich am eigenen Leib zu erfahren
31
Wieder Nationalfeiertag
Brave Treichelnschüttler
im Edelweisshemd
sagen
draußen
ist die Welt
die sie nicht wollen
als gäbe es überhaupt
draussen
und
wäre nicht andernorts
Edelweiss eine häufigere Blume
30
‘Glaub mir, der liebe Gott hat damit nichts zu tun.’ Olivia Ruiz
Diese schrecklichen Tage
als platzte der himmlische Ozean
und stürzte das Sonnenboot
zertrümmert in unsere Täler
rasten die Reiter Tod und Verderben
du kennst die Bilder
legst sie über das was du im TV siehst
weisst Zerstörung als ständige Begleiterin
von uns Menschen
wie Tod und Freude
29
Am 15. Juli 2021
Regnen und Nieseln
langweilen
du wohnst ja nicht am Wasser
Lachen im Kies sind keine Bedrohung
positiv bleiben
rät man wohlmeinend
soll ich positiv
denken hören fühlen schauen
mein Auge bleibt hängen
am rosa leuchtenden Netz
filigraner Stängel des Ruprechtskrauts
wie zierlich hebt es sich ab
vom Grün der Blätter
wenn ich dann hinüberblicke
zur Trauerweide
turnen da junge Spatzen
eine fröhliche tschilpende Schar
und siehe da
unversehens
ein sehr
positives Gefühl
TV Nachrichten vom 16. Juli – ein Nachtrag
Bilder zerstörter Häuser
ratlose verzweifelte Menschen
wann werden diese
positiv
als Wort wieder ertragen
28
Über uns Alte
Es regnet
es ist zu kühl für Juli
Laster mit Aushub
stören seit Tagen
Schmerzen walzen
den Freund nieder
er wird und will sterben
weit und breit keine Ruhe
dabei wollte ich schreiben
über
abgeklärtes Zurücklehnen
grenzenlose Güte
Wissensfülle
27
Ausgerechnet heute
Ausgerechnet heute
geht mir die Frage
nicht aus dem Kopf
warum ich nicht
warum du
möchte die Antwort finden
und weiss es gibt sie nicht
alle letzten Fragen
erhalten
keine Antwort
aber jemand sagt
frag nicht
ich liebe dich
26
Unnützes Dilemma bei 31 Grad
Zierlich elegant
kraftstrotzend glänzend
in der Fichte gegenüber
Elster und Rotschwanz
ist da zu erzählen
wie husch ist das Kleine
verschwindet
das Andere sich breit umtut
oder von der Gewalt der Starken
Rabenvögel fressen
ohne Skrupel
Eier und Junggeschlüpftes
aber vielleicht
ist das
gar nicht der Rede wert
Skrupel haben nur Menschen
die sich dann doch wieder
an schillernden Federn
der Elster erfreuen
25
Notiz am 16. Juni 10 Uhr
Schau gerade aus
da wird liegen
was kommt
alles
vor dir
Augen auf
bewege dich
die Parkzeit ist abgelaufen
24
Die herrliche Gleichgültigkeit der Natur Alphonse Karr
Endlich duften Rosen
endlich ein strahlender Wandertag
darauf haben wir gewartet
extra für uns
tausend Knabenkräuter
Klappertopf und Kerbel
als wäre diese Welt
unser Garten und wir darin
spazierende Götter
unsere Freude ist echt
die Lebenslust ehrlich
wohl wissend
um uns
kümmert sich die Natur nicht
ihr sind wir egal
trotzig und
echt gerade deshalb
unsere Bewunderung für
ihre herrliche Gleichgültigkeit
23
Unter der Buche
Heute fällt mir
das Zurücklehnen schwer
unter meiner Buche
sonst Ort freien Atmens
ich denke an zwei Freunde
sie warten auf das Sterben
lägen sie hier
Im Blick den Blätterhimmel
Lichtspiel
im sanften Grün des Frühlings
immer noch
verlören
sich
vielleicht
leise und heiter
im oszillierenden Wechsel
von Grün und gleissenden Lichtsplittern
22
Statt Weltschmerz
Hörst du
oben auf der Weide
singt ein Amselmännchen
Zwiebel Knoblauch
Olivenöl Wein
Gemüsebrühe
Karotten Petersilie
Zucchini Peperoni
Stangensellerie
zwei Büchsen Pelati
Pfeffer Rosmarin
Oregano Liebstöckel
Salsicce
drei Stunden
Geduld
zugedeckt
bei mässiger Temperatur
21
Genau so
Es regnet
schwer hängen die Zweige
keine Vögel
ein trister Tag
da ist plötzlich wieder
was ich vor Jahren memorierte
Il pleut. J’entends le bruit égal des eaux ;
Le feuillage, humble et que nul vent ne berce,
Se penche et brille en pleurant sous l’averse ;
Le deuil de l’air afflige les oiseaux. Sully Prudhomme
genau so
ist es heute
20
Der freundliche Seufzer des Prof. Johannes
Wie die ausschreitet
wie der gut aussieht
forsch flott keck alle
lebendig schön anzusehen
gerne sehe ich diese Menschen
ich bin nicht neidisch
bedauere nicht mein Alter
was ich in ihnen sehe
was mich froh macht
ist das Leben an sich
noch klingt mir im Ohr
sechzig Jahre sind es her
der Seufzer des Professors
Tolle Kerle…
er war über fünfzig und wir jung
19
Nicht das Mass aller Dinge
Sieh wie die Baumpfleger
in der jahrhundertalten Rotbuche
turnen balancieren stutzen
und die Nester nervender Nachbarn
wegkippen
aus mit Krächzen und Spektakeln
endlich wieder ungestört ausschlafen
ruhig dösen am Mittag
und ohne Geschrei in die Nacht
nun aber
habe ich mich belehren lassen
von einer bayrischen Prinzessin
es seien diese Radauvögel
beispielhaft gescheit
und kleine Videos zeigen
wie sie Werkzeuge erfinden und benutzen
Alpendohlen waren mir vertraut
die drolligen verspielten freundlichen
ihr Raben verzeiht
dass ich nicht wenigstens
ein bisschen mitgelitten habe
bei eurer Vertreibung
gestehe auch leicht beschämt
wieder einmal
ich
bin nicht das Mass aller Dinge
18
Jetzt
Allerhand Pflanzen spriessen zu sehen
im Frühling
mit weltverliebtem Herzklopfen
Alter sieh
wieder und wieder
Frühling
sieh es ohne Wehmut
es blüht die erste Akalei
jetzt ist
lass Übermorgen fahren
17
Steh
Steh gerade
steh aufrecht
aber nicht stramm
schau
zaudre nicht
lass dein Auge wandern
sanft gleite
dein Blick
über das was vor dir liegt
du wirst dich nicht verlieren
du stehst ja
die Erde dreht sich
wie eh
heimkehren
zu den Müttern und Vätern
wird dir leichter fallen
16
Notfall
Verstanden nein
manchmal verstehe ich nicht
was mein Freund meint
er spricht gerne in Anspielungen
ich mache dann gute Miene
und schwadroniere
ungefähr seine Worte
wiederholend
und mache mich
rasch aus dem Staub
bedauernd
ihn und oder mich
15
Wege zur Philosophie
Petersilie mit der Schere
kleinschnipseln
überrascht schaut das Kind
das macht Mama
mit dem Messer
aber mit der Schere
klappts auch
von da an
misstraut das Kind allem
was man halt so tut
und lange später
ist da eine Lust geblieben
alles in Frage zu stellen
14
Nochmals Frühling
Vollmond
Osterglocken Leberblümchen
Erinnerung an
Zeiten
die ganz anders waren
vielleicht etwas Heimweh
nach alten Ritualen
wieviel Zeit bleibt noch
ist mir egal
Wörter keimen noch
– keimen passt weil’s langsam geht –
gruppieren sie sich
zu einem schönen Satz
freut es mich
ha Alter
du schaffst es noch
13
Ostergefühle
Vielleicht sind
die rosa Abendwolken
die Ursache
plötzlich
dringlich der Gedanke
von einer endlich friedvollen Welt
auf dem Rad
auf dem Heimweg
mitten auf der Strasse
zu unbeholfen
geträumt
schnell gekappt
aber irgendwo
sitzt fest
da musst du hin
und die Abendwolken
scheinen zu sagen
so ist es
12
Hahn oder Huhn ist einerlei

Was bildet ihr euch ein
die Übersicht habe ich
ich
habe schon
den tappigen Petrus
erwischt den Feigling
die himmlische Taube
die alte Freundin der Venus
hat ihn nachher aufdatiert
zu päpstlicher Grösse
Schau mir ins Auge
Weiwei sieht das richtig
Kikerikigegockel ist ok
aber das Wichtige ist
der klare Blick
Hahn oder Huhn ist einerlei
11
Rettet die Welt
Begrünt
Fassaden
schafft ein gesundes Klima
für die Stadt
Vertikalgärten
für
aufrechte
Bürgerinnen und Bürger
lasst Pflanzen für uns arbeiten
10
Ende
Mein Verleger
gibt auf
die Geldgeber entlaufen
Mitarbeiter getürmt
Freunde
haben sich neu orientiert
die Setzkästen
verwaist
niemand greift hinein
reiht Wortzeilen
nur noch Blei
nur noch Last
es wachsen
keine Wörter mehr zu Büchern
09
Ratschlag
Du knickst ein mein Lieber
streck dich
der krumme Rücken
passt nicht unter deinen Kopf
08
Abschied
Weg
stumm seit heute früh
abgehauen
vor Sonnenaufgang
taub für Abschiedsworte
ins Leere gerufen
an die Wolken
geklopft
Regen
gewaschen
Träume von Meer Weite
nie endendem Leben
in Monumenten
fixiert
reihenweise
wir haben den Freund begraben
07
Versteinerungen
Der Praktiker tut Nützliches
flickt Fahrräder
denkt vielleicht an Ressourcen
schraubt ölt
Öl aus Lebewesen
abgesunken in Urmeeren
wie lange dauert das
Flucht und Ertrinken
sind alltäglich
isst ein Käsesandwich
kennt das Wort Gerechtigkeit
trinkt sein Bier
möchte seinen Frieden haben
er ist Zuschauer
sieht Wachsen Blühen
kennt Fossilien
Natur heute
gestern
Erdbeben in Japan
Naturgewalten
lösen Probleme
ohne ihn
06
Altersheim
Lieber alter Freund
trostlos sind die Tage geworden
langweilig sagst du
ich kann dich verstehen
dir fehlen Gespräche
fordernde
weggeschlossen
unter sprachlosen Menschen
gestern hast du gesagt
ich bin auf dem Heimweg
heute bist du verstummt
für immer
der abendliche Anruf
deine liebe Stimme
dein schlaft gut
fehlt uns schmerzlich
5
Eingesperrt grübelnd
Sinniere so vor mich hin
drehe das eine oder andre
wie wäre es
wenn ich vor Jahren …
jene Jugendliebe ach
Schauspieler Träume
Politiker in Vaters Stapfen
Redner
Bettelmönch
Buchbinder Gärtner oder Imker
erstklassige ausgefallene Entwürfe
jetzt bin ich alt
sitze zuhause und phantasiere
denke an meine Enkel an meine Liebste
und sage mir
du kannst zufrieden sein
was und wie’s geworden ist
Adieu allerseits
04
Lehrer Schöbi lässt Schuhe zeichnen
Schicke neue Schuhe
vor mir
ein Dutzend etwa
geträumt letzte Nacht
was ich jetzt trage
hat
schräg abgelaufene Absätze
Schuhe mit Vergangenheit
schon hocke ich wieder
in der alten Schulbank
Aug in Aug mit dem Schuh
zeichne
kritzele spitze radiere
Woche für Woche
Fersenrundung
Risthöhle
Schnürungseleganz
die Hand heiss
das Blatt verschwitzt
zu hängen neben
van Goghs Schuhen
aussichtslos
mein italienischer Schuster
ein Flickkünstler
wird neue Absätze kleben
für meine Zukunft mit oder ohne Kunst
03
Am Geburtstag zu sprechen
Was an einem altert
ist Haut und Knochen
sorgen dass der
Geist nicht bloss altert
sondern vielleicht
klüger wird vorsichtiger
manche nennen das
weise
ich hüte mich mir
diese Eigenschaft zuzuordnen
bis zum Tod
hoffe ich gelernt zu haben
etwas Bescheidenheit
und
nie zu vergessen
die Dankbarkeit für dich
und
sorgfältig
zu hüten die Liebe
zu dir
02
G. K. auf dem Kilimandscharo
Wie er
zurücklehnte
die Brust weitete
seufzte und darauf

sagte
Kili-man-dscha-ro
ich Keller-mand…
dann zum Glas griff
weiter vor sich hin brütete
Kiso hoch im Eis
Prosit
01
Was meine Liebste so sagt
Sie sagt
mach dir keine Sorge
bis zum Lädeli schaffe ich es leicht
es wird aufwärts gehen
hie und da hinab
es ist nicht die Zeit der geraden Strecken
denk nicht wir sind schon Greise
wir werden das packen gewiss
unterkriegen nein sagt sie
mein Stern ist der mutige Steinbock
Das war 2020
53
Tatsächlich 53 Wochen
Der Kalendermacher
hat das verordnet
Eremiten alle
wir sagen ok
Einsiedlerkrebse
in fremden Gehäusen
Kamele saufen für
Wochen
wir sind gerüstet
im Schädel
Gedanken im Rundlauf
vorbei an Haltestellen
ohne Horizont
auf Stuhl und Buch
52 mal Staub
Traum und Jahr
52
Inventar
wieviele Stunden gelacht
wieviele Stunden geredet
wieviele Stunden gezankt
wieviele Stunden geschwiegen
wieviele Stunden im Schlaf
wie lange Stunden gewandert
wie oft gemeinsam gekocht
wie oft und immer wieder
bloss
Hand in Hand
51
Es weihnachtet
Seit Wochen
blinkt glanzglitzernd
Weihnacht im Supermarkt
jetzt im Dezember heisst es
hol doch die Silvestersachen und
vergiss nicht Karneval kommt bald
dieses Tempo liegt mir nicht
ich mag es ruhig
ich rieche gerne Tannenduft
Weihrauch und Kerzen
bin halt alt altmodisch ja
ich sitze zufrieden
blättere und lese und
knabbere lustvoll dazu
Weihnachtsplätzchen
genauso wie einst mein Vater
ich pflege meinen eignen Kitsch
er glänzt und blitzt
derselbe ist’s seit Jahren
Neujahr kann warten
50
Sätze entfallen
Wer sind wir denn
auf unserem Ausguck
mit Rund- und Weitsicht
Seher Propheten
steht jemand
stehen viele
da ist Welt
sag ich ok du bist du
sag ich nichts
sag ich was geht mich das an
sag ich will ich denn alle lieben
sag ich es wird schon werden
Rundsicht ohne Antwort
entfallen
die klugen hilfreichen Sätze
49
Vollmond
Ein Mond pockennarbig
schielt auf uns dreht ab
verschwindet und kehrt wieder
Vollmonds Nachtmahr
verstört zu wirren Bildern
legt Nerven frei enthemmt
und lässt nicht schlafen
wie kommt es
dass er hingegen mich stets
freundlich grüsst mit liebem Licht
mich gar in Frieden träumen lässt
ich will’s ihm danken
und zeichne ihn
als makelloses Rund
48
Kleiner virologischer Weltuntergang
Es lockt wieder mancherorts
die Sehnsucht nach gestern wächst
meine Liebe
was ist da zu sagen
es hat uns bestohlen
wie kann ich so
morgen in den neuen Tag
hineinbummeln
47
November 2020
Ein müder November
verwirrt
mit strahlender Sonne
träge
Tage
Marienseide
im Haar
stummer Gruss
warte bis
alles im Senkel
bald
nie
wieder
46
Kontinent im Herbstblau
Aus gezacktem Halbrund
grünem Waldland
Bergwälder
anschwellende Adern
gelber Strom
gegen Süden
sage ich
fünf Nebenflüsse östlich
zwölf Seitenarme
fünf Nebenflüsse westlich
zwölf Seitenarme
hinab
in goldene Senken
endet als einsamer Strom
im Stiel
des Blatts
auf meiner Hand
der Sommerlinde
heute im Herbst
45
Blätterfall am 27. Oktober 2020
Gruss an Rilke
und die Vergänglichkeit
ich mache mich
auf
die Wege des Fallens
in Turbulenzen
Schweben
Taumeln Segeln
ruhe
im Dazwischen
Auf- und Abwind
Säusellüftchen
lassen tanzen
Böen wirbeln
hinauf haushoch
Torkeln
hinab hinab
zum sanften Aufsetzen
ich
wäre ich nasses Blatt
klatschte auf
schwere Blätter
klatschen auf
nach
schnellem Sturz
44
Ausgetrunken
Eben noch voll
ächzt
die PET-Flasche
mit bösartigem
Knirschen Knacken
knallt unvermittelt
du erschrickst
vom Schuss
aus der Leere
43
Im Regen
Im Regen
sind Blätter gefallen
viele nicht alle
apart verteilt wo ich gehe
eine Art nobler Teppich
keine Blätterhaufen
nicht die Raschelwälme
für Kinderfüsse
heute Morgen
passte dazu
ein kleiner Schuss
Herbstmelancholie
böte die Welt
nicht schon wieder
Bilder wie wir sie
von früher kennen
mir bleiben
Wut
und die kleine
Freude am Herbstlaub
42
Ohne
Ich möchte einen Text schreiben
ohne Pointe
eine kleine Wörterwanderung nur
hoffend
auf heitere Ausblicke
obenauf
spekulierend auf Einsicht
vielleicht
auf Wörter worauf
sich bequem sitzen lässt
wenn nicht gar schlafdösen
aber nichts Stachliges
keine nervösen Zickzackwörter
41
Belangsloses
Rheumatismen
rote Augen Jucken
abgeschmettert
Anfragen
zuklappen
die Tage werden kürzer
fünf Bücher noch nicht gelesen
soll ich das einfallende Dunkel
schon Nacht nennen
andernorts
schiessen sie
wieder
40
Kranker Freund
Umgeben von Malfaisants
korrupten machtgeilen Regierenden
umzirkelt von Jemanden mit
weissen Sneakers coiffierten Bärten
kommt einen die Lust an zu Spässchen
farbige Socken sind kein politisches Statement
weckt keinen Hund auf
stürzt keine Regierung
hilft keinem Flüchtling
ist bloss dumm hilflos
ich besuche jetzt
meinen kranken Freund
39
Sprich
Verlangsamt
die fliessende Leichtigkeit
der Sätze
von Frühling und Sommer
Wörter
im Netz
von schon Gesagtem
öde und blass
sag nein
sprich die Wärme
der Herbstfarben
38
Noch da
Vom Sprungturm springen
Kinder
mutig verspielt furchtlos
so schön ist das Leben
wie lange ist das her
etwas Heiterkeit von damals
ist noch da
auch wenn ich nicht mehr springe
37
Vorbei
Vorbei Sommer
vorbei Jahre
vorbei
freundlich ist sie
wehr dich nicht
hock dich aufs Pendel
lass dich wiegen
schaukle
irgendwann enden
Schmerz und Glück
vergiss vorbei
schaukle
36
Trumps Wählerpotenzial
QAnon u.ä./ Trump: «Ich weiss nicht viel über die Bewegung, abgesehen davon, dass sie mich sehr mögen. Wie ich höre, lieben diese Leuteunser Land.»
Es giesst als leerte sich über uns
ein Pool der Überirdischen
es mögen des Satans Kumpane sein
die dort tollen
er ist wieder in Mode
lenke
geheime Klubs
gierend nach Weltbeherrschung
das ganze Arsenal alter ekliger Theorien
wird flott kolportiert fromm geglaubt
nicht bloss in USA
speiübel wird mir dabei
ich kenne die Geschichten
todbringende
ich weiss um die Gemordeten
dumpfe Dummheit erdenkt sich einen Satan
schleicht sich so aus der Verantwortung
für das
wozu wir Menschen fähig sind
Srebrenica und Holocaust
35
Wenn möglich leicht
Ein Federchen am Boden
am Eingang zu Rehatechnik
habe vor
auf eigenen Beinen
weiterzuleben
habe vor
auf eigenen Beinen
weiterzuleben
federflaumig nicht
wenn möglich jedoch
ohne Bandagen
34
Schleuderkurs
Der Anruf
des leidenden Freunds
lastet
noch klingen
Lachen und Heiterkeit
von gestern
Hochzeitstafel
Krankenbett
Schleuderkurs
gefragt
ungefragt
mittendrin
33
Gebälk
Es knirscht und knackt
in Schulter und Nacken
kracht
wie das Gebälk
im Haus wo ich einst wohnte
das Haus
lebt weiter ohne mich
es wird mich überleben
bis auch es
zerfällt
in Asche wie ich
32
Hier ist nicht dort
Die Hitze ist gewichen
die knallende Helle auch
es atmet sich leichter
geschwunden ist
was an Mittelmeergefühl
sich breit gemacht
geblieben eventuell
ein Sehnsüchtlein
nach Salz und Wellenrauschen
und die Einsicht
diesem Sommer zu Trotz
hier ist nicht dort
Intermezzo zum Nationalfeiertag


…wieder einmal anpacken und zufrieden sein, dass wir hier leben dürfen.
31
Geparkte Autos reflektieren
Oben
im hellen Rechteck
an der Stubenwand
tanzende Figuren
übereinander geschoben
Schatten
Rebenlaub Rebenranken
luftlichtige Illusion
im Flirren
verbleichend
30
Sachlich 42×56 33×41 24×30
Passepartouts mit Rückkarton
alle säurefrei 70×100 60×80
gratis abzugeben
Reaktion null
niemand will
Gesicht zeigen
heutzutage
will sich niemand
chic gerahmt sehen
Maskenbluff
wie üblich
aber sofort
säurefrei und steril
man zeigt
jetzt die Füsse
Schuhnummern als
Freundlichkeitsquotient
abzugeben auch
diverse Löschpapiere A4
Plexigläser 15×24
als Masken- oder Brettersatz
29
Marias Seufzer
Sie ist gestorben
jetzt muss ich
die Uhr aufziehen
sie war besorgt
für die Zeit
ich für das Geld
jetzt hängt die Zeit
nur noch an mir
bis ich sterbe
28
Überlegen
Stelle dir vor
die Schwebefliege
schaut dir in die Augen
wartet auf einen Satz
du sagst ihn nicht
sie wundert sich
über deine Unfähigkeit
ins Gespräch zu kommen
ist ihr Mimikry
nicht Aufforderung genug
zu fragen
wer bin ich bist du
deine Ignoranz
hält dich für überlegen
der Horizont ihrer Art jedoch
ist ein anderer
er liegt Millionen Jahre
vor deiner Art
27
Quelque chose approche (Christiane Veschambre)
Etwas
wird
wird sich
öffnen ohne Zutun
aus dem Schatten gleiten
aus der Hitze tropfen
pulsieren
langsam
fallen wie ein Kiesel
und bleiben
fliessen
fliessen
du wartest bis
es dein Etwas ist
keines andern
26
Dilemma des Agnostikers
Ich habe im Halbschlaf
über Schwebefliegen nachgedacht
ich nehme mir vor über sie zu schreiben
beim Frühstück im Garten
steht eine direkt vor meinen Augen
Stehfliegen ist ihr anderer Name
das Kostüm ähnelt den Wespen
sie sind aber nicht stechend
sie seien Nützlinge heisst es
Falter Mücken Florfliegen
sind mir in letzter Zeit
unerwartet nahe
bewundernswerte Tiere
oder soll ich sagen
Geschöpfe
25
Totentänzlein
Nun
tanzen wir weiter
als wäre nichts gewesen
die Pest ist vorbei
erwischt hat sie andere
heute rot morgen tot
so war’s schon immer
24
Wünschlein
Die Ausdauer
des gurrenden Täuberichs
möchte ich haben
und das Lied der Amsel
23
Gedanken schauen
Müde
coronablockiert quasi
suche ich
für meine Gedanken
Anderes
Aufgaben oder Spielwiesen
flögen sie wie der Weih
Wahnsinns Perspektive
lass das
da sitzt
eine kleine Fliege
eine sehr kleine
tupft mit ihrem Rüsssel
meinen Zeigefinger sauber
gedankenverloren ich
sie auch
scheint mir
ich schaue bloss
22
O Tempora
Glockengeläut
wenn überhaupt nur zaghaft
Liturgie in leeren Kirchen
und Schau-Abendmahl
abgekartet
von gottlosen Geheimbünden
heisst es und schon
haben wir die neue Religion
mit lauten Anhängern
die wissen wo Gott hockt
endlich
Halt
in gottfernen Zeiten
21
Geerbt
Geerbt eine Tischdecke
mit einem Muster
wo rote gelbe grüne Linien
weisse Felder umfassen
beim Bügeln dieser Tischdecke
bin ich abgedriftet
habe zwischen den Linien
Gärten wachsen lassen
mit sprechenden Blumen
Gärtchen voll Vogellieder
einen Brunnengarten
spiegelnd Himmelsblau
und Sternennächte
Grossmutter
lass mir die liebe Illusion
schon du habest
diese Gärten geträumt
20
Weg damit
Heute
habe ich Erinnerungs-Alben zerschnitten
habe Fotos weggeworfen
wusch fort mit Ausstellungsbelegen
mit Schülergedichten aus den 60ern
mit Anerkennungs- und Danktexten
wie frei es sich atmet
unbelastet
zum Apéro und zu Tisch
dann
geht’s es an die kostbaren Stücke
weg damit
was soll der Brief das Bild
dein Herz hängt nicht mehr dran
und deinen Nachkommen wird’s egal sein
über die Schulter
werfe ich nette Tage
Hübsches in den Eimer
mir bleibt genug
Freundinnen und Freunde>
Kuss und gutes Wort
euch behalte ich
und dich meine Liebe
19
Altersweisheit und Güte
Zurückgebunden durch Corona
verführt durch die freie Zeit
habe ich in Stössen alter Fotos gewühlt
Grossvater samt Tabakpfeife
mit Grossmutter auf der Bank
umringt von Kindern
gemütvolle Szene
eines verdienten Lebensabends
längst habe ich aufgegeben
Tabakpfeife zu rauchen
was gebe ich für ein Bildchen ab
mit Ruhe Herzlichkeit Mitgefühl
ein gemütvolles
für die Nachkommen
in Radlerhose und Sneakers
auf den Lenker gestützt
lächelnd
rüstig in Berglermontur
mit Alp Hintergrund
lächelnd
am Schreibtisch
konzentriert mit Laptop
aber gütig lächelnd
vielleicht
18
Verstehen
«Dabei ist das Nicht-Verstehen ja nicht die Ausnahme, sondern die Norm des Lebens»
Fritz Senn in NZZ 21.1.11
Wie nun ist das zu handhaben
ich ergebe mich
nixverstaan
keine Frage mehr
vor Augen
den möglichen Zusammenbruch
unseres Finanz- und Wirtschaftssystems
weiter fragen
die Nachmittagssonne
legt mir
Blickwechsel nahe
aus dem Spalt
zwischen Steinplatten
ein bescheidenes Büschelchen
Veilchen
17
Seuche und kein Ende
Der Himmel ist blau
das Wetter ist schön
es geht etwas Wind
es ist ruhig Johann W.
relaxed im Garten
geniesse ich
Stille und Bläue
Ostern
kein Pudel ist in Sicht
der Teufel kreist
als Pleitegeier
der Nachbar weiss nicht
ob und wie
sein Laden überlebt
lieber Goethe
hast du vielleicht Kontakt
zu einer netten Dame droben
die dem Chef den Satz entlockt
ihr seid gerettet
würd mir echt helfen
diesen Frühling weiterhin
zu schätzen
16
Wo nachschlagen
Grossartig überwältigend
oder ähnlich
passt für diese Frühlingstage
man möchte die ganze
Welt Natur Landschaft
oder ähnlich
einatmen umarmen
in sich neu aufstellen
oder ähnlich
in Herz und Seele
einen blühenden Garten
eine Blustbaum voll Vörgel
wachsen einfallen lassen
oder ähnlich
wo soll ich nachschlagen
um definitiv
die richtigen Wörter zu finden
für diese Tage
15
Gleichgewicht
Bilder für
das Gleichgewicht
zwischen innen und aussen
diese Tage nun
machen Metaphern unnütz
du brauchst
etwas zu essen zu trinken
was auch immer
Brot Wasser einen Apfel
eine Stimme
aus dem Telefon
sagt ich höre dich
was morgen sein wird
ist offen
alles nur jetzt
14
Freundlicher Gruss aus der Isolation
Die Virus Seuche geht um
wär ich jung würds mich nicht kratzen
ich bin alt da beginnts zu denken
steht der Tod schon vor der Tür
und klopft
Ick stehe uff und kieke,und wer steht draussen? Icke.
die Berliner Klops Zeile trifft es
Salto rückwärts
so oder so
ich bin auch er
Freunde so ist es
Und das ist die ganze Klops-Zeile:
Ick sitze da und esse Klops. Uff eenmal kloppt’s. Ick sitze, staune wundre mir, uff eenmal jeht se uff de Tür. Ick stehe uff und kieke, und wer steht draussen? Icke.
13
Virale Langeweile
Leere Agenda
viel sehr viel Zeit
Langeweile ohne Grenzen
leere Regale
leer Reis Nudeln Mehl
nein niemand hungert
Toilettenpapier alles weg
vielleicht hilft zählen
gegen die Langeweile
250 Blätter pro Rolle
12
Worum geht es
Die Augen brennen
das Knie knirscht
ich bin lustlos
das Leseprojekt ist abgesagt
Viruspanik grassiert
worum geht es
alle Menschen sterben
immer sterben Menschen
alte Menschen sterben eher als junge
worum geht es also
mein Knie knirscht
so oder so
jetzt
habe ich Zeit
11
Nach Hause
Auf dem Heimweg
sah ich
zwei dürre Blätter
am Strassenrand
kurze Windstösse
liessen sie
drehen und hüpfen
eins übers andre
spielen als wäre es ihr Leben
zu Hause
im Briefkasten Werbezettel
ein Händler möchte
mein Auto kaufen
ich habe keines
auf Zettel zwei will
ein Unternehmen
mich beim Umzug unterstützen
ich will gar nicht umziehen
der dritte Zettel droht
Du bist schuldig vor Gott
Richtschwert und Bibel
im Bild verheissen
mir Hölle und Vernichtung
ich denke
an das heitere Spiel
der Blätter
und sage danke
10
Der verflixte Virus
Herta Müller erzählt eine kleine Episode, wo ihr ein Taschentuch
als saubere Sitzfläche auf einer Treppe diente.
In meiner Kindheit musste ich in der Schule montags
ein sauberes Taschen zeigen können
Heute soll jedermann beim Niesen
ein sauberes Taschentuch vor Mund und Nase halten
Hätten wir kein Burkaverbot wäre heutzutage
der Corona Alltag bedeutend einfacher
9
Roch
Heute Morgen habe ich
den Vogel Roch
gesehen
aus dem Zug
am Himmel kilometerlang
was für eine Gewalterscheinung
hilfreich drohend
sticht mit langem Schnabel nach Westen
unglaublich zart gefiedert aber riesengross
schiesst dahin zielsicher
um mich
alle mit Laptops und Handys
keiner sieht den Vogel
keiner bemerkt
dass er jetzt genau jetzt
die Lebenschance verpasst
auf den Flügeln des Roch
endlich
das Land der Seligen zur erreichen
8
Sturm
Wie wohltuend
hie und da ein Sturm
wie in diesen Tagen
bricht Abgestorbenes
aus Baumkronen
wirbelt es durch die Luft
wirft es hin wie es gerade passt
und ich bewundere
die Bruchstücke
ihre bezaubernden Flechten
die Moose die bizarren Gebilde
als wäre ein pfiffiger
Dekorateur am Werk gewesen
mir zuliebe
7
10.Februar Orkan Sabine
Aus den Herbststürmen meiner Jugend
sind Winterstürme geworden
stelle ich fest
was steckt noch im Alter
gewaltige Böen
schütteln die Fichte am Hang
aus den Ästen
Sturm Musik
bitte brich nicht
Wolkenberge rasen
morgen
soll der Sturm vorbei sein
6
Probleme
Probleme
sind genug da
echte
ob ich noch leben möchte
in der übernächsten Generation
ich weiss nicht
meine Katze äussert sich nicht dazu
sie frisst spielt und schläft
ich schreibe schon mal ein Klagelied
das entlastet
natürlich nützt das niemandem
ausser mir
ich bin ein Schönwetterphilosoph
5
Ach ja so war es
Erinnern
schwächelt
es mag am Alter liegen
allerdings
unerwartet schieben sich
Bilder Szenen vor
versunkene
ach ja so war es
war es so
war es
gestern oder damals
geschwätzige Alte
erzählen wieder und wieder
was sie glauben erlebt zu haben
flüchtige Bilder
Gedankenfetzen
Echos nur
4
Aus dem Fenster im Zug
Wolkengeschichten
mit fantastischem Personal
Drachen Riesenschnecken
Schweinerüssel
Schädel mit irren Physiognomien
gebläht aufgepumpt
im Handumkehren zerfallen
die Nase wird ein Schnabel
das Auge ein Rachen
schon wächst ein
Fisch zum Hasen türmt sich zum Elefanten
ich habe Stift und Block nicht bei mir
schade
3
Kalender Text
Gewidmet meiner Frau und allen Liebenden ob alt oder jung
Wir zählen die Tage nicht
an denen du mir fehlst
die Tage gehen so oder so
wir zählen sie nicht
nicht mehr
mag sein
dass sich manches verliert
langsam schwindet
was uns lieb war
so suchen wir nach Bleibendem
das uns hält
und uns freut einander
in die Augen zu blicken
wie immer die Tage kommen
dass du da bist
gibt ihnen Gewicht
2
Scherbenhaufen
Meine Scherben
von Glas und Flaschen
brächten Glück
ich bin gespannt
der prachtvolle Wintertag
heute
verheisst alles
die TV News jedoch
schütten
nur Scherben
1
Allen
Allen die mich mögen ein Lächeln
ein Augenzwinkern den Kritikern
Prost und zum Wohl
aber allen
das war 2019…
52
Aus Kindertagen
Was wünschte ich zurück
aus meinen Kindertagen
den Tannenbaum im Kerzenlicht
den Gabentisch
rundum Schwestern und Brüder
alle
die Mette
ich wünsche nichts zurück
als liebe Erinnerung
füg ichs zu vielen andern
und
lass ich es in mir ruhen
51
Konstanz im Advent
Klimperdiklimper
Räuchlein hier
Weihräuchlein dort
Kerzengeflacker
Lebkuchendurft
Bratenrauch
herzhafter Biss
ins Dünnele
50
Wintermond
Ich mag das Dunkel
und ich mag das Licht
hinreissend
der Vollmond
in der Winternacht
49
Lyriktrümmer aufgereiht
Dem Wald
mit
Haut und Haar
weichen
Schrittes
Windsäuseln
dem Fluss bis ins Meer
oder
dem abweisenden Fels
immer
den weichen Hügeln
zarten Brüsten der Erde
vor allem
dem Kinderlachen
48
Vielleicht die Sterne
Setzen Sterne
den Rahmen
Kühle und Weite
von Schönheit
woher
der Reiz
von Düften
von Farben
von Klängen
unterschiedlichen Gewichts
angeboren
gelernt
gegeben
wer hat mich so eingerichtet
Herkommen
Landschaft
der Tag der Geburt
ein heller Ostermorgen
muss es gewesen sein
dass ich den Farben anheimgefallen bin
47
Nimm die Farbtabelle
Der Himmel brennt
brennt natürlich nicht
sonst wär er Hölle
nun aber
der Himmel brennt
so schaut er aus
der Herbst
wühlt in der Zauberkiste
und präsentiert uns Feuer
vor honiggelbem Firmament
grad jetzt
in einer halben Stunde
wird’s Aquamarin
mag sein Türkis
eventuell mit schwarzem
Wolkendrachen der Feuer speit
bedrohlich
im Wechsel mit Aztekengold
46
Die Spatzen (ein Geburtstagsgedicht für den Enkel Serafin)
Der Spatz der hats
im Herbst noch lustig
er pickt und frisst
er fliegt und saust
durch die Büsche
und manchmal
streitet er mit Kollegen
und zwar laut
kommt der Winter
wird es kalt
da frieren auch die Spatzen
sie plustern de Federn
und hocken nah zusammen
so haben sie warm
ich sitze wie die Spatzen
zu denen die ich gern hab
und die mich lieben
so haben wir warm
45
Die grosse Freiheit
Leere Stühle
noch Platz also
wollen wir uns setzen
drückt in den Schenkel
Kissen also
bitte
thronen
sitzen
hocken
Stuhl sei Dank
aufstehen
und weg
wir sind so frei
44
Kleine Freude
Die warmen Herbsttage
mochte ich schon immer
ich warte auf die Novemberstürme
mit Blätterregen und frühem Frost
wie viele Male habe ich das erlebt
immer mit etwas Herzklopfen
in der Vorfreude auf lange Leseabende
43
Ritornell
Wieso ertragen wir
die Dummen und Frechen
an den Hebeln der Macht
wie haben sie es dorthin geschafft
hinauf oder hinunter
Machtrausch Machthölle
wieso ertragen wir
diese Dummen und Frechen
wir lieben
frischen Wind um die Stirn
freien Geist
Füsse auf festem Grund
wieso ertragen wir
die Dummen und Frechen
42
Am Ende für + V. St.
Gehen
den Käfig verlassen
den selbstgefertigten
Zimmer Haus
Freunde
auf und davon
ausziehen
neu einkleiden
eintreten
ins Unbekannte
heiter und frisch
neu siedeln
wird schon werden
41
Noch mehr Fliegen
Mit neugierigem Respekt
betrachte ich
jene winzigen Fliegen
kaum grösser als ein Punkt
sie fliegen kopulieren fressen
in Scharen überfallen sie meine Küche
flüchten blitzschnell
will ich sie erschlagen
wie rasch doch mein Respekt
mutiert in Mordlust
wunderlich
fast schäme ich mich
40
Terra incognita
Noch sind
Landstriche zu erkunden
sie liegen zwischen den Sätzen
wirf deine Wörter
verschwörerisch
setze Sätze
Wörtertürme
lege
Wortgirlanden
zwischen die Zeilen
39
Fortsetzung mit Fliege
Die Sache mit den Ahnungen
von Herbst Winter etcetera
hat s ja in sich
sind diese Ahnungen eine Art
jahrzeitliches Bauchgefühl
oder
rumort es im Dichterbauch
nostalgisch nach Rilke
ach ein wenig Vergänglichkeit
hübsch morbid
passt zu Nebeltagen
zu älterem Jahrgang
und klingt verdammt ernsthaft
andrerseits
Fliegenleben sind kurz
meine sympathische Fliege
wird den Winter nicht überleben
38
Eigenartig Rührung
Eine schlanke Fliege
erkundet meine Hand
unerschrocken
sie scheint interessiert
und lässt sich kaum stören
durch meine Bewegungen
kümmert sie sich
um mich
ich bin irgendwie berührt
ist es mein Alter
oder
die Ahnung von Herbst
vielleicht eines ungewissen Winters
37
Mindestens
Täglich
die Pflicht
unaufgeregt
zu schauen
nachzudenken
nachzufühlen
und
furchtlos
sagen und tun
was ansteht
36
Innen und aussen
Allerhand
Sammelsurien
Berge von Weissichwas
über die Jahre
aussen
und
innen
die Sehnsucht
nach der Weite des Meeres
dem unendlichen Himmelsbogen
klingender Stille
35
Zwei und zwei
Zwei Kätzchen
zwei Mädchen
ah und oh
Amseln zetern
das Goldhähnchen
entwischt unter Stauden
golden und rot
oh
Kätzchen im Haus
Mädchen im Haus
ah
34
Die Stiefel
Wer besässe nicht gerne
die fabulösen Stiefel die
im Hui dich bringen von
da nach da
gegen alle Vorurteile
den Tritt in die weissen Flecken
deiner Biographie
hin und zurück
in Riesenschritten
33
Jetzt
Die Zeit wird knapp
das Ungewisse
ist das Gewisse
das Neue
ist schon
alt
32
Guten Morgen
Neben meinem Ohr
schnurrt ein Kätzchen
brummt ein Bär
knurrt im Traum der Löwe
ächzt die Haustür
seufzt der Stuhl
pustet pfeift und schnauft
hier dampft die Lok von Lukas
jammert das Täubchen
gurrt und gurrt der Tauber
ein Riesenschnarch
da knallts
und knattert wie ‘s Motorrad
guten Tag mein Schatz
da bist du wieder liebes Herz
31
Boot im Hafen
Netz
Drahtgeflecht
Lichtspiel
in ständigem Wechsel
auf der Bordwand
lichtadern
Lichtgarn
geknotet geknüpft
bleibt
keinen Lidschlag lang
Lichtspielzauber
30
«Trockenheit bahnt sich an»
Meteo SRF
Da
Äcker mit lahmem Gemüse
Schrunden Risse in der Krume
staubige Steppen
Strohwiesen
oder Wüste
schöne Wüste
unglaublich schön
noch sind da Bilder
sanfte Sillhouetten
Dünen als Akt
bizarre Felstürme
Tore Galerien Brücken
Sand
ocker porphyr henna
marmorweiss
Anthrazit Steinfelder
Antilope Giraffe Elefant
Rinder Jäger
auf Felsen
gezeichnet gehauen
Weite
und Stille
berückend und erhaben
was steht bevor
29
Der See heute
Hinter
hellgrünen Matten
der See
heute in Aquablau
oder ist es
Gletscherblau
vielleicht Vintage Light Blue
doch nicht etwa
Türkis oder Ozeanblau
auf keinen Fall
Kornblume und Himmelblau
auf jeden Fall aber
ein ruhiges Blau
und eigenartig
irgendwie überraschend
28
Schalter geschlossen (für E.B.)
Nach
irgendwo und nirgendwo
gibt’s heute keine Karten
du musst warten
vielleicht ist morgen
eine da
nach überall hin
und zurück
das wär ein Glück
die Karten nur für hin
die gibt es nicht
für dich
noch schwingt das Pendel
hin und her
27
Sommerabend
Laut singend
duellieren
zwei Amseln
Mauersegler
zersäbeln
den Abendhimmel
unverletzt
blau
wartet
das Firmament
auf den ersten Stern
26
Ohne
Spazieren frühmorgens
alle mit Hund
ich ohne
die alte Dame
nuschelt Unverständliches
klingt aber kritisch
mache ich mich verdächtig
ohne Hund
25
Nicht das Ende
Der Rhein tritt über die Ufer
der Dauerregen
spült deinen Schmerz nicht weg
lass dein Herz nicht ersaufen
man sagt bald werde es hell
und Blätter richten sich wieder auf
das Ticken des Tropfenfalls endet
morgen siehst du die Lastkähne wieder
24
Pfingstsamstagskonzert Komm Heiliger Geist (BWV 651)
Die Dame vor mir
liest im Bund
von SPD Krise und Trump
ich sehe es aus den Titeln
wir sitzen im Chor der Kathedrale
da plötzlich fegt
Bachs Komm Heiliger Geist
allen Mief aus dem Raum
23
Wörtersortierer
Wörter auf Linien setzen
eines manchmal zwei drei
stundenlang
wieder streichen und neue setzen
ein Stotterer
bis zum letzten Satz
22
Aktuelles auf dem Pult
Einladung zu Vernissage
Einladung zu Künstlergespräch
Einladung zu Buchkauf
Einladung zu Freilicht Ausstellung
und
drei Einladungen zu Essen und Wein
21
Mein Haustier
Ist klein
sehr klein
hat sechs Beine
hängt sich an die Zarge zum Esszimmer
auch an den Schirm meiner Mütze
baumelt und kraxelt blitzschnell hoch
am unsichtbaren Faden
Guten Morgen
Gruss am Mittag
zwinkert gute Nacht
denk ich
20
Wo ist der Gärtner
Die krausen Blätter auf hohen Stängeln
versprechen mehr als eine Mahlzeit
mit köstlichem Grünkohl
das Gärtchen an der Scheunenwand
hie und da sah ich den ältern Herrn
mit Bedacht darin arbeiten
heute überrascht mich eine gelbe Wolke
Blüten über Blüten des Grünkohls
wo ist der Gärtner geblieben
19
Postkarte im Mai
Auf meinem Arbeitstisch
die Venus von Giorgione
entspannt dösend
ich seh sie gerne
entspannt fast so wie sie
in unerotischer Heiterkeit
18
Ich hingegen
Kirschbäume in Blüte
es regnet nein es giesst
wie unpraktisch
die Natur
ich gäbe da
ein mildes Regenchen
mit genügend Sonne
17
Über mich selbst
‘Ob du dir selber ein paar huldvolle Verse ge(ver-)dichtet hast’
nein
habe ich nicht
huldvoll schon gar nicht
verdichten
tun sich in meinem Alter
bloss allerhand Leitungen in Bauch und Kopf
gesegnet und
mit grösstem Dank bedacht seien
nicht huldvoll sondern herzlichst
all jene die
noch durchlässig sind
von Schädel Kehle bis Darm und Zehe
16
Was hoppelt da
Im Frühling
möchte ich dies verschicken
mehrere Streifen Horizont in Türkis
drei Strophen Amsellied
von verschiedenen Sängern
dazu Meisenzirpen
Günsel und Dotterblumen
Bärlauchdüfte
und einen eiligen Osterhasen
15
Wenig
Man wünscht mir
langes Leben
Gesundheit und mach weiter so
ich wünsche mir
klaren Kopf für diesen Tag
und eine Hand
übers Haar zu fahren
wen ich liebe
14
Wieder
Blätter
Blüten
der Duft der Südbuche
Meisen in den Rosen
auf Rollschuhen
Mädchen
13
Trümmer
Wer rettet
Schönheit
aus tausend Jahren
Herkules
sortiere die Trümmer
und baue
12
Letzter Blick zurück
für Monika Schmid
Die Welt von gestern
geistert durch deine Träume
dein Vater
deine Mutter haben sie gekannt
haben gewusst wo Gott hockt
an ihrer Hand bist du
gewandert
durch Himmel und Hölle
durch den Rosenkranzgarten
zwischen den Erdbeerbeeten
und Kopfsalatalleen
im Flüstern des Engel-des-Herrn
und in der Furcht vor Stalins Kommunisten
Kronzeugen gottloser Verlorenheit
und sexueller Haltlosigkeit
gegenüber jedoch
die sichere Ruhe
des päpstlichen Ostersegens
der sonntäglichen Messe
samt Pfarrer und Kaplan
nun bist du alt
Geduld am Ende
Schweigen vorbei
deine jahrhundertalte Kirche
ein Trümmerhaufen
unglaubwürdig
lächerlich im Gehabe
beschämend
Leid tun dir
die Gutgläubigen
alle
ihr Fragen unbeantwortet
mit Dogmen weggewischt
heillos begraben
wie nur hat man helle Köpfe
domestiziert
Kinder abgerichtet
mit scheinheiliger Macht
schäbige Segenswelt
Strich darunter
11
Wörter ohne Inhalt
Die Passwörter von gestern
klappern noch als Worthülsen
flott gebraucht
von allerhand Jongleuren
mit und ohne Heiligenschein
Handliches wie
Freiheit
Unabhängigkeit
Wahrheit
Gott
10
Insel
Das Telefon
schweigt
gekappt der Draht zur Welt
bin nun
Robinson
09
Passwort III
Wir haben viel gehört
wir haben viel gesehen
wir haben Vieles erwogen
und Vieles gemacht
der Kopf ist voll
Lust Schmerz und Freude
gaben sich die Hand
tief liegen die Erinnerungen
das Herz ist voll
noch suchen wir
das Wort das alles in sich fasst
08
Passwort II
«Nein», sagt Ayelet. «Gott existiert nicht.»
Und sie brauche ihn auch nicht mehr. >Sonntag, 11.02.2018, 09:12 Uhr DRS
Sie hat das Passwort geändert
die Welt hat nun einen neuen Namen
nicht mehr Schöpfung
nur mehr meine Welt
mein Tag
diese Nacht
das Passwort
ich oder du
07
Von 8-21 Uhr
Im Zug
mit 20 Minuten
quer durch
etwas Alltag etwas Politik
etwas Stau etwas Szene etwas Sport
etwas Sex etwas Horoskop und Garfield
dann
Bus
Schneematsch
Kaffee und Tagblatt
Staubsaugen Salatteller
Siesta Kanapee mit Francesca Melandri
Alle, ausser mir
Telefonate und nochmals Kaffee
Waschmaschine ausräumen tumblern
News Tele Abendbier
was ist das Schlüsselwort
für diesen glücklichen Tag
06
Passwort I
Sesam öffne dich
jeden Morgen gesagt
und
schon ist die Sonne da
Regen oder Schnee
immer das Licht
Passwort
zu den geheimen Schätzen
des neuen Tages
05
Bruchlandung
Es beginnt im Kühlschrank
Überfluss oder Leere
Duft und Moder in der Nase
im Hirn ratterts von Versäumnissen
der Blick aus dem Fenster
TV News oder ein Anruf
wären Varianten
Decke oder Bad
retten dich
vielleicht ein Espresso
wieso juckt es immer dort
wo man nicht hin greifen kann
04
Was zu sagen ist
Du
bist
mir
ein Segen
03
Anderes Wortspiel
Wenn der Morgen eklig beginnt
etwa mit einem tollen Hexenschuss
wenn im ersten Anruf
du hörst von verbockten Menschen
von Krankheit Scheidung Lug und Trug
wenn dich weit und breit
wirklich nichts anlacht
beginnt da die Wortreihe etwa mit
pilzfaulig
scheisskotzig
und so fort
halt die Nase zu
mein Freund
schliess Aug und Ohr
kneif dich
dann stelle fest ich lebe
und freu dich
02
Jahrsauftaktwortspielerein
Morgentaufeucht
Heiterkeitspanne
stoppelsamtseidig
Glückskollision
Nebelvorhanglöcher
vollumrundetrund
schmetterlingsleichtluftig
Misserfolgsfreude
Wolkenbalkenfenster
01
Frisches Jahr
Vor uns liegt ein frisches Jahr
eingenebelt von Raketen
eingeknallt und eingeprostet
fürs Erste scheint noch alles scheint offen
es liegt an uns was werden wird
pilzglanzduftig
2018
52
Frage und keine Antwort
Wie ist das eigentlich gekommen?
Alles, was früher Weihnacht ausmachte, kommt jetzt vor Weihnachten…
Lassen wir‘s und schenken irgendwem eine kleine freundliche Geste.
51
Kerzen
Eine Kerze für alle Freunde
die nicht mehr sind
eine Kerze für alle Freunde
in Sorgen
eine Kerze für alle Freunde
in Schmerzen
eine Kerze für dich
ob ich dich kenne oder nicht
50
S isch halt e soo
Früener isch mr am Morge id Rorati
has gern gmacht und zwor jede Taag
hüt gang i no mengmol
sisch aber nüme sGliich
Gschichte dehender send
bleich worde
oder scho ganz veschwunde
so schmeggts halt nono e bitzeli
noch de säbe Chindheitserinnerige
au wennt nochher e Biberli zom Kafi nensch
wered die Geschichte nüme farbiger
s isch halt e soo
49
Bedrohliche Situation
In den Gassen wachsen die Tannenbäume
mit Plastikglitzer und Lichtergirlanden
überall Fest Fest Fest
feiere feiere geniesse
besoffen von Festlichkeit
benommen von Duftschwaden
träumst du
von einer nur einer Kerze
einem Glas Wein nur einem
oder zwei
und wartest aus den Bus
48
Am Anfang
Im Nebel wird alles zur Ahnung
er ist mild und gütig
nimmt dem Morgen die Härte
noch hat der Tag kein Gesicht
setz dich und
warte auf das Schlüsselwort
47
Wettersprüchlein
Der Sommer weiss nicht
ob er herbsten will
der Herbst bleibt Herbst
tut wie gesagt sein Bestes
der Winter grübelt
wie er’s nun haben will
und ich
sitz hier und warte
46
Respektabel
Der Herbst
macht einen respektablen Abgang
mit Wind und Farbe und Sonnenuntergängen
fotogen
wir Menschen mögen das
obschon
ich höre schon die ersten husten
so ist es nun
doch doch respektabel
45
Ach Rilke
Der Tisch ist kalt
die Heizung spinnt
die Finger klamm
ich denk an Sonne
oder heissen Tee
Gedanken drehen Pirouetten
Zeitung
gelesen ist gelesen
wahr ist
hier ist es kalt
44
Im Deutschen Theater
Herr Hartmann
hat eine gute Idee
er inszeniert Hamsuns Hunger
die Schauspieler
tun dies und das sagen oder schreien dies und das
der Zuschauer
schaut und denkt
greift nach Gesten und Wörtern puzzelt im Kopf und
kriegt die Sache einfach nicht hin
die verdammt gute Idee
43
Einfall beim Suchen nach passenden Bildern
für Menschen vor einem polnischen Heiligenbild
Bei Recyclern finden sich grosse Ballen
gepresst aus Papier aller Art
sie sind gesprenkelt und wirken kompakt
ich vermute von beträchtlichem Gewicht
zusammengehalten von irgendwelchen Bändern
löst man sie
zerfällt der Block früher oder später in seine Bestandteile
42
Zwölfter Oktober 2018
Drei Spatzen flitzen über meinen Kopf
ich spüre den Wind
es sind die frechen heiteren Gesellen vom Sprengelpark
Teil einer grösseren Gang
täglich überrascht und erheitert
durch ihre unverfrorene Lebendigkeit
mein Gott wie gerne wäre ich
ein Mitglied ihrer Bande
flöge Passanten um die Ohren
zeterte stritt lümmelte
frässe von Boden und Tisch
grad wies kommt
bis zu jenem Frühwintertag
wo man mich fände
reifüberzogen im Laub
41
Reisen bildet
Bei Unsicherheit
fragen Sie die Durchsetzungsstelle
oder informieren Sie sich in der Brotmeisterei
oder im Sekretariat des Backwarenzusatz-Verbandes
40
An der Böschung
Ein Bagger kratzt die Böschung frei
schiebt Strünke zu Haufen
Wurzelstöcke beten die Wolken an
und warten bis der Blitz sie trifft
39
Nostalgisch
Wenn der Sommer
in den Herbst kippt
mit Früchten und Farbe
wenn Böen
Baumkronen leeren und
zum ersten Mal morgens
der Gedanke an Handschuhe
dann sagte du vielleicht
war ein guter Sommer
und fröstelnd
hörst du schon
wies knistern im Kamin
38
Sommer Grandezza
Unheimlich schön spiegelt
der Teich
Schilf Wald und
den makellosen Himmel
als wäre er selbst
nichts mehr und nichts weniger
als die Mitte der Welt
37
Nicht die Tauben von San Marco
Frühmorgens
gurren Tauben
kleine Motoren auf der Dachrinne
nervig und
du denkst an gebratenen Tauben
Frühstück gefällig
direkt ins Maul
wenn sie doch sängen wie Amseln
tschilpten wie Spatzen
nein nur grugrugru
wären hilfsbereit
wie bei Aschenputtels
zu Erledigendes erledigend
die Papierstösse sind beträchtlich
vielleicht aber sind sie
mahnende Stimmen
Urenkel jener Taube
am Jordan
ach was arschfrech sind sie
ungeniert wie die Tauben am HB
Fressbares suchend zu Fuss
zwischen den Beinen der Passanten
36
Auch die Saurier
Ein sonniger Morgen
und Tauwiesen
prachtvoll
über dem See dicker Nebel
am Radio miese Nachrichten
aber die Saurier
sind schliesslich auch ausgestorben
35
Verpasst
Ich möchte diese zehn Sekunden
zurückdrehen
nochmals neu ansetzen
andere Wörter wählen
und dann
ein Lächeln auf deinem Gesicht sehen
34
Manager
Wespen
Räuber am Tisch
fallen ein
zwacken von Schinken und Käse
hauen schwer beladen ab
und sind schon wieder da
unverfrorene schön gestylte Bande
ohne Gewissensbisse
33
Rang 4
Wie vertraut ist mir
Rang vier
das Podest knapp
aber eben verpasst
Kunst
braucht langen Atem
und Zufallsglück
32
Nachtrag zum Nationalfeiertag
Passabler Patriot
geübter Leisetreter
Faustimsackmacher
Stammtischrebell
31
Der rote Mond wandert
Der rote Mond am Firmament
jetzt
sitzt er auf der Flasche
Olivenöl aus Griechenland
rot in die Küche
abgewandert
allerdings
dorthin von Bertàs Monprà
Grappa
für Richard und Walter
wo er
als Rosamond
von ihren Wangen strahlt
30
Die Kirschen
O diese Kirschen
wann gab es sie so prall und saftig
Johannisbeeren hübsch aufgereiht
immer noch Erdbeeren Himbeeren
ein unglaublicher Sommer
abgeerntet das Getreide
langsam kriecht Trockenheit ins Land
was wird noch
29
Kleine Trouvaille bei Apuleius
Wohl nur von einer Göttin zu sagen
…zuweilen tanzte sie alleine mit den Augen
oder von Kindern
bevor sie
erneut versinken
im Spiel
(Apuleius. Metamorphosen p. 317)
28
Das Tischtuch
Ein Tischtuch
weiss mit farbigen Streifen
ein Tischtuch für Abende im Freien
ein fröhliches Tischtuch
für heitere Sommertafeleien
ein Tuch mit Geschichte
erworben mit Sammelpunkten
gehütet von Grossmutter zu Grossmutter
drei verschiedene Rot
drei verschiedene Grün
zweimal Gelb
vierundzwanzig Quadrate
ungefähr tellergross
in einem ein Fleck
verschuldet von
Hans wars nicht Walter nicht
Regula auch nicht
wars am Ende gar
ich
27
Lenkerin
Die Gezeiten immerhin
haben etwas Verlässliches
der schöne Vollmond bringt sie
die Alten wussten
er ist weiblich
freundliche Göttin die alles lenkt
Isis oder Maria
26
Was nun
Herr Bischof mag Kondome nicht
er sagt man solle ohne
Frau Müller sagt zu ihrem Mann
was weiss der Bischof denn von Sex
heisst’s doch er lebe ohne
25
Orthografisches Spielchen
Im Dunkeln
hältst du meine Hand
umhalst dich meine
hält dich mein Arm
umhalst du mich
mit deinem
und hältst du
Hals an Hälschen
nahe den Ohren
ist aller Halt verloren
24
Beim Schwimmen
Der spiegelglatte See
zaubert um den Kopf verspielte Spinnereien
Mückenfangsaltos von Fischen
über den Schwimmern
Froschquaken
als frommen Morgengruss
Schwirrkratzen auf Glatzen
so sind Libellen
wie schön sichs auf dem Rücken treibt
oben grosses Wolkentheater samt Reiherflug
zufrieden in den Morgen gleitend
23
Juni
Wir sagen dir adieu
Maria Maienkönigin
der Flieder ist verblüht
der Mai vorbei
die Himmelslust
weicht nun der irdischen
nicht zu verachten
sind ihre Freuden
wir leben gern
und seh’n uns wieder nächstes Jahr
22
Unpassend Ende Mai
Ein schrumpeliges Weibchen geworden
war jung und anschmiegsam
dass jetzt in der Nähe
der Tod warte
mache sie nachdenklich
und ein wenig unsicher
vorüber vorüber
rühre mich nicht an
könnten nur junge Mädchen
rufen
mit allerdings mässigem Erfolg
21
Adieu
Du sagst adieu
gehst
und bemerkst kaum
das Ungeheuerliche
eines jeden Abschieds
20
Nachdatiert
Dieser Text kommt eine Woche zu spät
tut aber so als sei er rechtzeitig erschienen
die Ziffer machts und gauckelt dir das vor
was solls ich habe gelernt
von Politikern und Produktbeschreibern
19
Già la vita
Già la vita sta correndo
per le sue vie storte
quando con il sacchetto dei rifiuti
scendo le scale
con un pensiero in mente
ogni scalino spinge
verso il cancello
passo l’androne
raggiungo il cassonetto
alzo il coperchio e getto
del mio di ieri dentro
e guarito ritorno
dove tutto m’è noto
come straniero
dando uno sguardo al cielo
Gedicht des Freundes in Rom – Roberto Righi
18
Marienlob
Sie sagen dir
Jungfrau
Adams Sünde habe
dich nicht verdreckt
kleine Magd
junge Frau
uns hingegen hat es erwischt
sagen sie
man hat dich
Unbefleckte
hinaufgehoben
hoch über unsere Köpfe
da stehst nun
17
Dilemma in Rom
In Roms Kirchen
bleibt der Atem weg
weil Michelangelo
so blendend gehauen hat
Raffael so gekonnt
und Caravaggio
und weiss ich wer auch
so grossartig gemalt haben
ob all der Denkmäler
einst mächtiger Kirchenfürsten
die unbescheiden
an den Wänden kleben
weil aber
draussen
die Touristenwalze droht
atmet sichs dann
drinnen
doch wieder besser
16
Alles
Alles
muss man wieder ablegen
nach und nach
15
Wo ist der Himmel zu Hause
Anhimmeln
kennen wir
wie aber gehen
abhimmeln
vorhimmeln
einhimmeln
aushimmeln
durchhimmenln
was lieber Leser
wenn ich dich
einhimmle
genau jetzt
14
Erinnern
Der Frühling
holt versteckte Bilder der Kindheit
das kleine Rinnsal mit knallgelben Dotterblumen
das lustige Gemurmel am Wiesenrand
der Duft von Mädesüss
ein Bach ein Bächlein unter Weiden und Erlen
ein Laubfrosch
Krebse unter den Steinen
Larven der Köcherfliegen in ihrem gemauerten Panzer
ein Teich mit Fischen Fröschen Libellen
ein Molch mit orangem Bauch
Wasserläufer flitzen über Sonnenspiegel
13
Querer Gedanke
Schöne
junge Menschen
bezaubernd
Gedächtnisstau
krakelige Handschrift
Rückenschmerzen
wird trotzdem auch eure Zukunft sein
12
Glücklicher Morgen
Ein Mädchen mit Schulsack
trödelt in den Morgen
unversehens eine Pirouette
Buchfinken singen
zwischen den Wolken
etwas offenes Himmelsblau
11
Innere Freiheit
Kleine Lachen
im Kiesweg
spiegeln
Sonnenglaslöcher
die Menschen
gehen achtlos drüber
10
Grounding
Abwärtz
schwierig zu schreiben
tz wie z
die kleine Hand
setzt
zögernd
das Wort ins Heft
ts ts sagt der Alte
schreibs mit t und s
so bleibt noch Raum
z ist
Schluss fertig Amen
09
Kein Dilemma
Wenn
die Linke weiss
was die Rechte tut
sagt die Linke
Ist nicht mein Bier
am gleichen Körper
reiner Zufall
08
Lieber Freund
Lieber Freund
komm wir
wir bauen die Kulissen ab
vielleicht
sehen wir dann
wer im Schnürboden hantiert
07
Die Nebelwisser
Die Lust
am Nichtwissen
kalbert
Führer
06
Ernst der Dichter
Ernst findet ‚neulich’
nicht in seinem Vokabular
‚neulich’ sei neu
‚kürzlich’ passe ihm
ich ‚eben erst’ oder ‚letzthin’
‚kürzlich’ sagt er tut es
das Leben ist auch kurz
05
Auch ich bin ein Mann Herr Gomringer
Ich gestehe
ich mag Bäume
ich mag Alleen
ich mag blühende Bäume
ich mag Blumen
ich mag Blumenwiesen
ich mag Blumensträusse
ich mag Rosen auf dem Tisch
ich mag Frauen
ich mag junge Frauen
ich mag elegante Frauen
ich mag alte Damen
…in Berlin soll Gomringers schöne Avenidas-Gedicht übermalt werden, weil sexistisch…
04
Eine Verneigung vor der im Oktober verstorbenen Lyrikerin Elisabeth Heck
Bevor
ein Schritt
den neuen Tag
wie Glas
zertritt
Elisabeth Heck in Hauch in die Kälte (1995)
Die Buchhandlung zur Rose St. Gallen verfügt über Restexemplare verschiedener Publikationen dieser Dichterin.
03
Naturbelassen
Dass Milliardäre
Staaten leiten
verdient heutzutage
keine besondere Beachtung mehr
das wächst wie Unkraut
wilde Ruderalflora
Disteln zum Beispiel
hemmungslos aussamend
zu stachligem Paradies
02
Der Grossvater erklärt Serafin den lieben Gott
Das ist der Kirschbaum
der ist aus dem Kirschkern gewachsen
den hat ein Rabe ausgeschissen
der Rabe ist aus dem Rabenei geschlüpft
wer hat das Ei erfunden
den Raben erfunden
den Kirschbaum gemacht
das ist der liebe Gott
Der hat keine Hände
wie macht er es denn
er sagt es
er hat keinen Mund
er denkt es
er hat keinen Kopf
er ist der liebe Gott
er hat alles und nichts
er kann alles und nichts
er tut alles und nichts
er ist alles und nichts
so ist der liebe Gott
wir wissen
er hat den Kirschbaum gemacht
den Raben und sein Ei
wir kennen den Kirschbaum
die Kirsche und den Kirschkern
wir kennen den Raben und sein Ei
den lieben Gott
kennen wir nicht
er ist der liebe Gott
und den Kirschbaum hat er gemacht
01
Neujahrs-jaja
Das alte Lied
die alte Leier
Neues
eventuell
ja ja
2017
52
Jetzt
Punktgenau jetzt
genau jetzt
genau dies
und wieder genau jetzt
nach jedem Lidschlag ein neues BIld
wieder und wieder
genau jetzt
genau dies
51
Ihn
Sie sähen ihn gerne
den da
sie sähen ihn gerne leibhaftig vor sich
dann sagten sie
so ist also der da
jetzt kennen wir ihn
den da
ihn
50
Das Unerwartete
Dass zwei Nachbarinnen
morgens
ihre Federbetten ins Fenster hängen
gleichzeitig
wie ich
hat keine weitere Bedeutung
ebenso wenig
die Feststellung
dass mehrfach im Haus
gleichzeitig
die Klospülung läuft
das Unerwartete wartet weiterhin
Im Oktober ist die St.Galler Schriftstellerin Elisabeth Heck im 93. Lebensjahr leise von uns gegangen.
„Bevor / ein Schritt / den neuen Tag / wie Glas / zertritt“
Neun Wörter und was für eine Weite der Gedanken: da spricht Hoffnung, da spricht Vorsicht, da spricht Respekt und Behutsamkeit, da spricht Denken.
49
Tageslauf
Am Morgen sagt er Amen
als wäre der Tag schon gelaufen
als wäre getan was zu tun ansteht
am Morgen klappt er die Bücher zu
die er nachts nicht gelesen
verlässt das Haus
und denkt im Gehen Löcher in den Tag
48
Black Saturday
Die Türkränze sind verkauft
Mooskissen wären noch da
Biedermeiersträusschen
exotische Fruchtstände
Broze Kunstkitsch
eine Triefnase
für mich
47
Erinnerung an Wien
Ein Platz mit Wasserspiel
auf drei Seiten
Fin de siècle mit Rundtürmen
Pariser Attidüde
auf den Ruhebänken
Griechenland Balkan Türkei
46
Passt immer
Etwas leiser
vielleicht
gescheit geworden oder nur erfahrener
Haar weg
allenfalls schütter
vorsichtig
oder wackelig
der Gang
alles mit etwas
etwas passt immer
45
Zuwendung
Ja
was
hast
du
denn
gegessen
44
Rückblick
Schon
wieder
Rückblick
rasend
der Zeitlauf
wieso sagen wir das immer wieder
wie gnädig ist doch
Vergessen
wie beruhigend die Gewissheit
auch das Schlimmste
nimmt ein Ende
43
Wir
Die Hinterlassenschaft
vergangener Jahre
sind wir
42
Eignet sich auch als Wurstpapier
Vor und nach der Wahl
Unterschieben
schieben
treten
vermuten
verschreien
versprechen
versprechen
vergessen
vermuten
treten
schieben
unterschieben
41
Gruss aus Wien
„Aufstand werden’s keinen machen, die Wiener, solange es Bier und Würstl gibt.”
ein schöner Satz
passt auch für Chinesen und Schweizer
sofern sie Würstl mögen
wie ich
40
Verstehen
Wir
warum
warum diese Welt
warum gibt es Leben auf der Erde
Theologen und Philosophen diskutieren
Physikern fehlen Antworten
momentan sagen sie
du blickst auf
Birnen
ein Baum voll Birnen
du stehst und du staunst
39
Bitte beeilen
Ich
warte auf
meine Altersweisheit
sie soll sich beeilen
ich bin bald achtzig
38
Herbst
Eine Blüte
am Apfelbaumzweig
probt den Frühling
37
Am Weg
Husch
eine Haubenmeise
grad neben mir
brechend voll rot
Apfelbäume
36
Gottes Frage
Du siehst nur Grau
es regnet und regnet
Sintflut
die Wolken kippen ihre Kessel
ich frage mich
wen soll ich da ersaufen lassen
die Es die Trs die Ks etcetera
oder
ihre Wähler
35
Eigenartig
Schädel
bleischwer
verschwitzt
dabei
wollte ich
luftig denken
heute
34
Nachtrag zur Kirchweih
Was sagst du nun
baroque is back
mit Fahne und Standarte
mit Hellebarde und Gardist
im Orgelgewitter
gerammelt voll
die Bänke
wie einst
wie einst
als draussen
der Höllenhund auf Säumige
luchste
potzhimmelherrgottsakrament
schon rochs nach Fegefeuer
gar nach Höllenbrand
keine Angst
jetzt sind alle friedlich
losgesprochen fromm
sehr nett und hungrig
nach Bier Wein und Wurst
im Haus voll Glorie Amen
33
Nach diesen Tagen
Bleibt noch
der Blick
auf die kleine Heiterkeit
auf drollige Missverständnisse
auf einen hie und da munteren Alltag
klagen was hilft das
32
Allerhand Bewegung
Die
Gletscher
schmelzen
die
Sportler
rennen
die
Zeit
läuft
31
Und ich
Wenn die Hügel
nicht mehr verbläuten
morgens oder am Abend
sich herausschälten aus dem Nebel
oder versänken ins Dunkel
nicht mehr
30
Letzte Wochen
Lange Sprossen der Rebe queren das Fenster
hangeln sich an Südbuche und Rose hoch
nahe am verholzten Stamm grüne Trauben
wieviele Wochen noch bis zur Reife
29
Ein Griff
So ist es
so war es
zum Greifen
nah
das Glück
28
Sprüchlein zur Ermutigung bei Gegenwind
Gegen den Wind
mit den Wellen
gegen Wellen von Wind
mit den Füssen in die Pedale
gegen Wind gegen Wind
wie die Wellen im Wind
27
Frage an den alten Theologen Werner
Es gibt keine Abkürzungen
sagst du
ins Paradies
ja
aber
Umwege
jede Menge
jeder dritte ein Irrweg
verschlungene Pfade
vorgezeichnet
in himmlischem Plan
heisst es
endloses
Rauf Runter
was nur hat den Planer getrieben
dir und mir das anzutun
und
wird dann
deine Tür auch meine
wenn wir Petri Schlüssel klappern hören
26
Mitsommer
Wenn
immer
Sonnenhelle liegt
auf Häusern und auf Strassen
und
Menschen
träge träumen
von langen Nächten
25
Für Trudi L.
Dem Tod
ein Lächeln
gegenübersetzen
voll Leben
24
Gestern Abend
Im Dunkelpurpur der Hügel
eine Handvoll
Lichtpunkte
23
Unerwartet ein Engel
Die Stimme
tat mir wohl
der Seufzer auch
und das Geständnis
ich weiss nicht wie ich es geschafft
ach Angela
du Swisscom-Engel
du hast ’s Problem gelöst
wie immer auch
es scheint vollkommen
sind auch Engel nicht
mir reicht’s
wenn sie so tüchtig sind
wie du
22
Wieder
Ein Morgen
das Licht
die Düfte
die Wärme
wieder
ein Tag
zu loben
21
Rosen
Rosen
die Illusion
heiler Welt
ich liebe sie
20
Verblichen
Man sagt
er sei
verblichen
entschwunden Gestalt
Gestik samt Laut und Farbe
du siehst vor dir die Urne
siehst ihn nur mehr
erinnernd und
erzählst dir selbst
Begegnungen mit ihm
in einem Jahr
rechnest du
seien auch sie
verblichen
so wie oben an der Säule
der Thronende
von dem niemand mehr weiss
wer er war
denkmalgeschützter
namenloser Schatten
19
Schön und gut
Gebt Raum
dem Schönen
und Guten
Bärlauch erobert
das Gärtchen
Maiglöckchen
nisten sich drunter
todsicher
18
Andernorts
Versuche zu vergessen
was ich so nebenbei
Im Netz
gelesen
das hatten wir doch schon mal
ich zapple im Netz
neue Untergänge
vor Augen
hinter mir
lässt Regen den Frühling platzen
andernorts blühen schon die Rosen
17
Verstehen
Verstehen
warum wir hier sind
warum gibt es die Erde
warum gibt es Leben auf der Erde
Theologen und Philosophen diskutieren
Physikern fehlen Antworten
momentan sagen sie
16
Osterrabatte
Newsletter
verheissen
neues Leben
In Haus und Garten
preisreduziert
Tauben ziehen Kreise
am Himmel
Pietros Colomba
zwinkert mir zu
noch ist Karfreitag
15
Gefällig
Kommentarlos
in den Frühling
gefallen
14
Sammeln
Noch trage ich die Hochzeitshosen bei Festen
man pflegt so auch älter noch Jugendresten
13
Kafffeesatz
Ein Satz
vor dem Kaffee
etwa
Frühlingswetter strahlt
im Satz
auch gelesen
12
Der Olivenbaum in Karres
3000 Jahre alt sei der Baum
sagst du
aus der Zeit von Homer
sagst du
verschlägt den Atem
mir Kurzatmigem
läse trotzdem gerne
in dem verwrungenen Stamm
von Aphrodite
und Sokrates
und ertastete
einen Vers der Ilias
11
Rinderphilosophie
Mein Enkel
mag Fleisch
nett
findet er
glückliche Rinder
nur
warum
schlachtet man sie
wenn sie doch
so glücklich sind
fragt er
10
Hinweis für Freunde
Falls ich eine rote Krawatte trage
bin ich noch kein Follower
von Trump
falls ich auf Raki verzichte
noch kein Anhänger
von Erdogan
und falls ich Gulasch esse
noch keine Verehrer
von Orban
allerdings
falls ich auch lüge
sind das meine ganz persönlichen
Lügen
09
Dilemma
Ich habe es ja immer gesagt
niemand hört mir zu
niemand
hat etwas gesagt
man hätte es ja hören können
08
Unverblümt
Feuchtfröhlich
den heiteren Aufstand proben
die Leute
einrastern
in Nette Langweiler und Scheisskerle
und ihnen
die Wahrheit
ins Gesicht posaunen
07
Taube oder Spatz
Die Taube auf dem Dach
kann mir gestohlen bleiben
ich
habe mich angefreundet
mit dem Spatz in der Hand
06
Den Namenlosen
Lokale Autoren
schreiben über Lokales
lesen in lokalen Lokalen
für Lokale
sie sind namenlos
und werden
bald vergessen
recht so
05
Winteridylle
Bergfahrt im Nebel
Talfahrt im Nebel
beschlagene Scheiben
die Hand reibt einen Sehschlitz
Fichten schneebedeckt
Wasserstürze
Zahnradrattern
wieso bin ich nicht im Rössli eingekehrt
04
Meine Fingernägel
Meine Fingernägel
erinnern mich
an meinen Vater
er mag um die 60 gewesen sein
erinnern mich an seine Fingernägel
breit hart etwas brüchig
mag sein bäurisch
sie sahen nach Arbeit aus
der Vater war Beamter
kein Bauer aber verbunden
der bäuerlichen Herkunft
sie war ein Milieu geblieben
er baute Ställe für seine Buben
schnitzte Kühe und Pferde
Bauer ist keiner geworden
von den Söhnen
geblieben sind uns
Hände mit breiten Fingernägeln
brüchig geworden
vom Schreiben und
vom Blättern in Büchern
wie er es auch zu tun liebte
03
Frühe Planung
Zwei Wochen
schon
sind zu ordnen
eventuell
Sicherheitszonen zu benennen
und Tummelwiesen
für die Liebe
02
Fragen über Fragen
(ausgelöst durch die Tatsache, dass sich unter den Umschlag meines Buchs Von der Liebe ein Buchinhalt von Peter Weibel eingeschlichen hat – ein sehr schöner zwar, aber halt nicht meiner…– Bitte schickt was falsch ist zurück an: mich/Verlag/Buchhandlung – alles wird ersetzt.)
Ist das der Wolf
im Schafspelz
ein Schaf im Wolfspelz
echter Wolf im Wolfspelz
ein falsches Schaf im Pelz
immerhin ein Schaf
oder ists
ein postfaktisches
Fake
weder Schaf noch Wolf
01
Lachen
Eine Träne
fürs alte Jahr
noch keine fürs neue
Lachen
steht bereit
weiss vom Weinen
bleibt
und
lächelt